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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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darum jede noch so winzige Veränderung an seinem Körper mehr als jeden Außerirdischen. Eine geschwollene Lymphdrüse flößte ihm größere Angst ein als jeder Atomunfall, und Ausschläge, womöglich am ganzen Körper, kündigten nicht etwa Masern an, sondern ein frühes Stadium von Blutkrebs. So war er mit der Zeit zu einem peniblen, von Angst geschüttelten Beobachter seines sehnigen, schlanken Körpers geworden, und jede noch so winzige Anomalie versetzte ihn in eine Art Lähmungszustand.
    Er öffnete den Spiegelschrank, nahm das malzfarbene Fläschchen mit dem gelben Etikett aus dem obersten Fach, schüttelte es ein paarmal kräftig und drehte die Verschlusskappe, die zugleich als Griff des Behandlungspinsels diente, heraus, riss den Mund auf und begann zunächst in tupfenden, später in kreisförmigen Bewegungen die entzündeten Stellen am Zahnfleisch und in den Backentaschen mit der bräunlichen, scharf riechenden Tinktur zu bestreichen. Sofort spürte er ein brennendes Kribbeln. Und weil er das Gefühl hatte, mit seiner Selbsttherapie auf dem richtigen Weg zu sein, wiederholte er die Prozedur keine zwei Minuten später noch einmal.
    Jahrelang hatte er kostbare Vormittagsstunden in schlecht klimatisierten Wartezimmern irgendwelcher Arztpraxen vergeudet, umzingelt von hustenden Mittfünfzigern, die abgespannt in abgegriffenen Lesering-Illustrierten blätterten und ihm ihre Grippeviren ungeniert um die Ohren bliesen. Und mit welchem Erfolg? Damit man ihm regelmäßig Präparate mit unaussprechlichen Namen verschrieb, auf deren Beipackzetteln die unglaublichsten Nebenwirkungen aufgelistet waren, ohne dass auch nur eines von ihnen imstande gewesenwäre, sein Grundbefinden entscheidend zu verändern. Stattdessen hatte er sich nach deren gieriger Einnahme mit Verstopfung, Nasenbluten oder rätselhaften Hautausschlägen herumgeplagt, die seinen Abscheu vor Ärzten nur steigerten. So hatte Ben eines Tages beschlossen, sein Problem selbst in die Hand zu nehmen. Ärzte machten ihm Angst, und Angst war das Letzte, wonach ihn in seiner Situation verlangte.
    Ben drehte das Fläschchen zu und bleckte die Zähne, streckte die von der Lösung bräunlich verfärbte Zungenspitze heraus und beäugte sie kritisch. Er glaubte sehen zu können, wie das Mittel, das er darauf verteilt hatte, zu wirken begann, in tiefere Schichten vordrang und dort den Viren und Bakterien den Garaus machte.
    Inzwischen verfügte er über ein halbes Dutzend in der Speisekammer gelagerter, randvoll mit Salben, Pillen, Sprays und Dragees gefüllter Schuhkartons (genau wie Janek), aus denen er sich regelmäßig bediente, um all die wiederkehrenden Symptome mehr oder weniger erfolgreich in Schach zu halten.
    Ben wusste in irgendeiner abgelegenen, von der Angst verschont gebliebenen Region des Gehirns, dass er mit Kanonen auf Spatzen schoss. Trotzdem spendeten ihm all die Medikamente auf eine magische Weise Vertrauen und jenes Maß an Grundsicherheit, das er inzwischen für unverzichtbar hielt in seinem täglichen Kampf ums Überleben.
    Er dachte zurück an jene Zeit, in der er noch nichts wusste von diesem Ringen und rief fast sehnsüchtig die Bäche und kaum merklich in der aufgeladenen Juliluft zitternden Felder seiner frühesten Kindheit in Stadtprozelten in sich wach, dazu das Summen von Insekten in der Mittagsstille und dieses unvergessliche Licht, das über grasgrün leuchtende Baumwipfel sprühte.
    Ben hatte die sonnigen, trägen Tage geliebt, die allem offenstanden und in denen noch nichts besiegelt schien, kein Wölkchenden Himmel trübte und die Kühe auf den nahen Weiden standen, zuckten und mit den Schwänzen schlugen. Im Sägewerk, unten im Dorf, türmten sich die staubtrockenen Holzspäne, und das verdorrte, beim leisesten Luftzug sacht knackende Gestrüpp in den nahen Wäldern konnte dem kleinsten Feuerfunken zum Opfer fallen. Doch die Hitze hatte auch etwas Angenehmes, wie sie über der Dachpappe des langgezogenen Flachbaus flimmerte, jedes noch so winzige Geräusch erstickte und Stadtprozelten mitsamt dem Kinderheim umhüllte. Dann drang aus den hinter dem Haus die Hügel hinauflaufenden, terrassenförmig angelegten Weinbergen nur noch manchmal das verirrte Tschilpen eines Vogels herüber, der vor der Sonne Schutz im dichten Laub der Reben suchte, und in der »Prasselburg«, wie das Kinderheim hieß, kam, da der Stundenzeiger auf der Speisesaaluhr auf die Eins vorgerückt war und den Beginn des Mittagsschlafs der Kinder markierte,

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