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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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trotzdem versucht, ihm Kraft und Rückendeckung zu geben. Zudem hatte sie quasi im Alleingang die Kinder auf eine einigermaßen gerade Bahn geführt. Und wofür? Dafür, dass ihr Mann verrücktspielte, sich im Hobbykeller verbarrikadierteund sie zum Teufel wünschte, und ihr Nachwuchs sie, in alle Winde zerstreut, mit diesem Problem allein ließ. Am liebsten hätte sie den Spiegel mit einem gezielten Hieb in tausend Teile zerschlagen, um sich nicht länger sehen zu müssen. Denn da war es plötzlich wieder, dieses vermaledeite »Erkenne dich selbst«. Es starrte sie aus dem Spiegel an wie eine höhnisch grinsende Fratze. Doch sie hatte plötzlich nicht mehr die Kraft, ihren Arm zu heben, um die Vase von der Kommode zu nehmen und entschlossen gegen den Spiegel zu schleudern.
    Erschrocken wandte sie sich um, trat vor den offenen Kleiderschrank und nahm gezielt das anthrazitfarbene Strenesse-Kostüm heraus. Außerdem wählte sie Feinstrumpfhosen, eine weiße Van-Laack-Bluse sowie die dazu passenden, ebenfalls anthrazitfarbenen Pumps von Stefi Thalman, die sie sich auf einem Kurztrip nach Zürich geleistet hatte. Und nachdem sie sich eilig frisch gemacht, frisiert und geschminkt hatte, lief sie wieder hinunter zu Rainer in den Keller, der, das spürte sie, inzwischen mit weniger als einem Finger an seiner alten Existenz hing. Doch sie hatte entschieden, so wie es Menschen oftmals tun, die sich hinter ihrer Tapferkeit verschanzt haben, dass sie lieber mit einem letzten mächtigen Sichaufbäumen untergehen wollte, als feige und tatenlos mit anzusehen, wie ihre Welt um sie zerbarst. Schließlich bestand noch immer die Möglichkeit einer halbwegs unversehrten Landung, wenn sie es nur vermochte, Rainer ebenfalls genau davon zu überzeugen. Sie konnten doch über alles reden, das hatten sie doch immer gekonnt, oder etwa nicht? (Nein, natürlich nicht, aber was spielte das in dieser Situation noch für eine Rolle?)
    »Rainer? Hörst du mich?«, rief sie und legte dabei ihren Kopf seitlich gegen die verschlossene Hobbykellertür. Dann pochte sie ein paarmal sanft dagegen. Minutenlang herrschte Stille, schließlich erklang ein Rumoren.
    »Was willst du?«, antwortete die Stimme.
    »Dass du mir vertraust!«, rief Ulrike und knetete nun die eine Hand mit der anderen. »Ich will dir doch helfen!«
    Ein spöttisches Lachen erklang. »Wenn du noch ein bisschen bei mir bleibst, kannst du ja vielleicht miterleben, wie ich sterbe!«
    »Rainer, um Gottes willen, was redest du denn da? Ich will, dass du lebst! Hörst du! Denk doch an unsere Zukunft und an die Kinder!«, rief sie und spürte beim Blick auf ihre Armbanduhr, dass die Zeit nicht reichen würde, um ihn zum Aufgeben zu bewegen. In etwas mehr als siebzig Minuten musste sie am Kaffeetisch ihrer Mutter sitzen und gute Miene machen (und so blieb ihr bei einer veranschlagten Fahrtdauer von fünfundfünfzig Minuten von Fulda nach Hanau gerade mal eine Viertelstunde). Dabei dachte sie: In gewisser Weise hat er mein Leben ruiniert. Ich habe ihn sehr geliebt, doch war alles umsonst.
    »Es hat doch zuletzt gut geklappt mit uns, Rainer!«, rief sie, um den vorherigen Gedanken zu überdecken. »So gut wie schon lange nicht mehr, findest du nicht? Das wollte ich dir sagen, Rainer. Und dass ich dich immer noch liebe!« (Was konnte sie in einer solchen Situation schon anderes sagen?)
    Minutenlang hatte sie das Gefühl, in einem Schraubstock festzusitzen, eingeklemmt zwischen zwei Unmöglichkeiten. Und auf einmal bekam sie Angst, fürchterliche Angst, er könne seine Sätze wahrmachen und … (aber nein, Rainer bemitleidete sich selbst viel zu sehr, um mutig Hand an sich zu legen). Andererseits hatte sie Angst, dass er sie für immer hassen würde für das, was sie getan hatte. Denn auf einmal sah sie den Weg, den sie gehen musste, klar vor Augen: einen steinigen, dornigen Weg, der sie womöglich ihre Ehe kosten würde. Trotzdem war sie fest entschlossen, ihn zu gehen. Wenn sie aus Hanau zurück und Rainer bis dahin noch immer nicht zur Vernunft gekommen war, würde sie handeln.
    »Rainer, ich muss jetzt weg, bin aber bald wieder da«, rief sie in die dumpfe Stille hinein und vernahm anschließend nichts als ihren eigenen gepressten Atem. Aus dem Waschraum drang der scharfe Geruch von Waschmittel und Maschinenöl herüber (auf Rainers Geheiß hatte sie den Rasenmäher, dieses Mistding, beim letzten Mal dort und nicht wie üblich im Fahrradkeller abgestellt, angeblich um damit den Attacken der

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