Die Ängstlichen - Roman
Mäuse, die sich dort herumtrieben und mit Vorliebe, so Rainer, an Elektrokabeln nagten, vorzubeugen), und im Vorratskeller, das konnte sie deutlich hören, tropfte der Wasserhahn.
Als sie auch nach mehrmaligem Rufen keine Antwort erhielt, spürte sie, wie ihr Puls in die Höhe schnellte.
»Rainer«, rief sie beklommen, »bei dir ist doch alles okay? Oder, Rainer?« (Vielleicht ist er eingeschlafen, dachte Ulrike mit klopfendem Herzen.) »Rainer, so antworte doch!«, ließ sie nicht locker. »Rainer, hallo, sag doch was!« Wellen der Panik liefen durch sie hindurch.
»Rainer, verdammt, was ist denn mit dir?« Mit voller Wucht schlug sie gegen die Tür.
Daraufhin wurde ein Grummeln laut, und eine Stimme antwortete gebrochen: »Ach, lass mich in Ruhe!«, und verstummte. Da schlich sie sich mit einem mulmigen Gefühl im Bauch, aber auch irgendwie erleichtert, davon, stieg in ihren Wagen und brauste Richtung Hanau.
K onrad Jansen, der in diesen Minuten aus seiner medikamentös erzeugten Bewusstlosigkeit erwachte, erhielt aus seinem Hippocampus, jener Region im Großhirn, welcher bei der Verarbeitung von Emotionen eine zentrale Rolle zukommt, die Meldung, dass seine Flucht gescheitert war: Statt in JohannasKüche vor einer Tasse Instantkaffee zu sitzen, befand er sich in einem Krankenhausbett. An seinem Bett standen der Leitende Oberarzt sowie zwei Assistenzärzte, die ihn anstarrten, als hätten sie bereits seit Stunden gemeinsam auf sein Erwachen gewartet. Doch Konrad war in diesen Sekunden mit seinen Gedanken ganz woanders. Er fühlte sich wie ein Boxer nach einem verlorenen Kampf, und die Chronologie seiner Niederlage lief noch einmal schlaglichtartig vor seinem inneren Auge ab: sein Sprung aus dem Fenster; die kurze schlingernde Fahrt mit dem Auto durch den Regen; das Hotelzimmer in der Freigerichtstraße; und schließlich das argwöhnische Gesicht des Inders.
Er kniff die Augen so fest wieder zu, dass sich auf seiner Netzhaut atemberaubend schöne kaleidoskopische Farbmuster auftaten, verschlungene rot- und bernsteinfarbene Wirbel, abstrakte psychedelische Spiralen, Bruchstücke eines Einblicks in (ja was eigentlich?) etwas seltsam Beruhigendes. Oder sollte er sagen: Heiliges?
»Wo bin ich?«, fragte er mit gespielter Verwunderung in die Farbstrudel hinein, riss sich dann aber von ihnen gewaltsam los und wartete nun seinerseits auf eine Reaktion der anderen Seite.
»Im St.-Vinzenz-Krankenhaus, in der Orthopädie!«, antwortete einer der Weißgekleideten.
»Im Krankenhaus?«
»Ja«, kam es sogleich zurück.
»Aber ich dachte, ich …«, murmelte er und starrte entgeistert auf sein eingegipstes, an einer Art Galgen in einer Schlinge hängendes Bein.
»Was dachten Sie?«
»Dass ich im Himmel bin.«
Die Ärzte sahen einander ungläubig an.
»Klarer Fall von posttraumatischer Belastungsstörung«, rief einer aus der kleinen Runde.
»Wie heißen Sie?«, riss sogleich ein anderer aus der Gruppe ungeduldig die Vernehmung des unbekannten Patienten an sich.
»Sagen Sie uns Ihren Namen!«
»Meinen Namen?«, echote Konrad und rollte hinterlistig die Augen (er begann Gefallen zu finden an dem kleinen Spiel. Außerdem war es ohnehin nur eine Frage der Zeit, bis sie dahinterkamen, wer er war und woher er kam).
»Ich, äh, also …«, stammelte er.
»Gönnen wir dem Patienten besser noch ein wenig Ruhe«, schlug einer der beiden jüngeren Ärzte vor, aus dessen Kitteltasche ein lässig hineingestecktes Stethoskop hervorschaute.
»Ja, vielleicht sollten wir so verfahren«, pflichtete ihm der andere bei. Die drei setzten sich in Bewegung, und keine zehn Sekunden später klappte die Tür hinter ihnen zu.
Konrad (der sich inzwischen ganz in seinem Kopf verschanzt hatte) atmete einmal tief ein und wieder aus. Er verspürte Durst, großen Durst. Und mit dem routinierten Blick eines Menschen, der es gewohnt ist, unter der Aufsicht anderer zu leben, registrierte er hinter sich an der Wand den Klingelknopf, den er sogleich kräftig drückte, um eine der Schwestern herbeizurufen.
»Ich habe Durst«, sagte Konrad und blickte die Schwester, eine ältere Frau mit schmalem Gesicht, perlgrauen Augen und auffallend fleischigen Ohrläppchen, die einen lindgrünen Kittel trug, auffordernd an. (Er tat es mit dem Blick eines Menschen, der das sichere Gefühl hat, der Rest der Welt stehe knietief in seiner Schuld.) Der Anblick seines hochgelagerten, bis unter die Hüfte eingegipsten Beins amüsierte ihn.
»Ich bringe Ihnen
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