Die Ängstlichen - Roman
erfolglos einen neuen Anlauf mit seinen Socken startete, überprüfte Johanna (die Uhr zeigte inzwischen 15.09) zum x-ten Mal die Tischdekoration. Sie hatte (so ein Unsinn!) kleine Steine, die sie im Hof gesammelt und unter fließendem Wasser abgewaschen hatte, zwischen den Tellern und Gläsern drapiert (so als käme eine Gruppe Alpinisten zu Besuch), weil sie das in einem teuren italienischen Restaurant, in das Helmut sie unlängst einmal eingeladen hatte, gesehen hatte. Schließlich warf sie abermals einen mürrischen Blick auf die an der Wand hängende Küchenuhr und murmelte: »Also jetzt könnte ja wirklich mal langsam einer kommen!«, und ließ Luft ab.
Derweil erhob sich Ben schwerfällig und warf sich das Sakko über. Und nachdem er barfuß in seine Schuhe gestiegen war (ohne sie zuzubinden), stopfte er die Socken einfach in die Taschen und lief, an der ihm verdutzt nachstarrenden Nachbarin vorbei, hinüber ins »Esfahan«, ein ganztags geöffnetes iranisches Bistro, in der Hoffnung, ein Kännchen schwarzer Tee könne ihn wieder in Schwung bringen.
Im »Esfahan«, das von einem Exil-Iraner namens Majid geführt wurde (der ihm unlängst mit ein paar Eiern, Barbary, seinem selbstgebackenen Fladenbrot, einem halben Pfund Butter und zwei Packungen Dug, gesalzener iranischer Buttermilch, ausgeholfen hatte, als in seinem Kühlschrank Ebbe herrschte), verkehrten jüngere Leute, überwiegend Ausländer, Iraker, Perser, Kurden. Doch Ben (der Leuten, die ihn an Bin Laden erinnerten, grundsätzlich aus dem Weg ging, weil sie ihm Angst machten) gefiel es, hier seinen Tee zu trinken, orientalische Musik zu hören und in fremdsprachigen Zeitungen zu blättern. (Eine Zeitlang war er beinahe jeden Morgen hierhergekommen. Und seit er Majid kurz nach der Eröffnung des Bistros beim Formulieren eines Werbe-Handzettels geholfen hatte, den Majids kleiner Bruder Ali den im Viertel parkenden Autos hinter die Scheibenwischer klemmte, waren die beiden locker befreundet. Bei Majid hatte er das erste Mal Cymin Samawatie gehört und sich daraufhin gleich ihre Platte »Per Se« gekauft.)
Majid, der sich am liebsten in ausufernden Monologen über die Politik in seiner Heimat erging, die seinem Volk, so der Iraner, trotz Chatami bislang nicht die ersehnte Freiheit beschert hatte, stand hinter seiner Theke und machte sich am CD-Spieler zu schaffen, und nach wenigen Sekunden erklangen die ersten Takte irgendeiner iranischen oder aserbaidschanischen Jazzband.
»Einen besonders starken schwarzen Tee, bitte«, rief Ben und nahm auf einem der Barhocker Platz.
»Salam, mein Freund, wie geht es dir?«, erwiderte der andere in dem freundlichen, für ihn typischen Singsang, wobei ein breites Grinsen sein Gesicht überflutete. Majid wiegte langsam seinen großen Kopf mit dem pechschwarzen Wuschelhaar, das nahtlos in einen ebenfalls pechschwarzen Vollbartüberging. Doch Ben war, bis auf ein angestrengtes Nicken, nicht mehr zu entlocken. Er linste mit hängendem Kopf hinunter zu seinen nackten Knöcheln und dachte dabei an die Socken in seiner Tasche (war jedoch nicht imstande, seinen Händen den Befehl zu geben, aktiv zu werden). Stattdessen spähte er ziemlich ungeniert hinüber zu der zwei Plätze weiter sitzenden jungen Frau mit schulterlangem dunkelbraunem Haar (ihrem hellbraunen Teint zufolge schien sie eine Araberin zu sein).
Sie nippte gedankenverloren an einer Cola, und plötzlich ertönte ein gedämpftes Klingeln. Daraufhin griff sie sich einfach in ihr ohnehin offenherziges Dekolleté, schob ihre linke Brust unsanft beiseite und zog das zirpende Handy hervor. Und nachdem sie telefoniert und das Ding vor sich auf den Tresen gelegt hatte, veranstaltete sie ungeniert die gleiche Prozedur mit ihrer rechten Brust und förderte nun ein Bündel zerdrückter Fünf-Euro-Scheine aus den Tiefen ihres rosafarbenen BHs hervor.
»Das machen bei uns alle so«, sagte sie, denn offenbar hatte sie Bens Blick gespürt. Sie sah ihn direkt an.
»So«, antwortete der knapp und griff nach der Tasse. »Von wo kommen Sie denn?« Nun sah er, dass die junge Frau allerhöchstens zwanzig sein mochte.
»Aus Warschau«, sagte sie und glättete die Scheine, indem sie sie mit der rechten Hand festhielt und mit der anderen wieder und wieder darüberstrich.
»Sie sind Polin?« Ben spürte beim Sichaufrichten, wie das nasse Hemd am Rücken klebte.
»Ich bin eine Sinti, halb polnisch, halb deutsch«, sagte sie. »Außerdem bin ich seit vier Wochen und zwei Tagen
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