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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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nüchtern in der Ankergasse aufzutauchen.
     
    J ohanna saß vor einem Haufen Blusen und Röcke auf dem Boden und wischte sich mit dem Zipfel des Wollschals, den sie dort herausgefischt hatte, die Tränen aus dem Gesicht.
    In einem jähen Anfall von Wut hatte sie, vor dem Kleiderschrank stehend und nur mit einem Unterrock bekleidet, bei der erfolglosen Suche nach etwas Passendem für den bevorstehenden Anlass schließlich wahllos Stücke herausgerissen und vor sich auf den Boden geworfen.
    »Eine Witwe ohne aufgebahrten Leichnam, den man betrauern kann, ist doch keine Witwe!«, klagte sie. »Aber was bin ich denn dann?«
    Dabei starrte sie reglos in das Dunkel des sperrangelweit offenen Schranks wie in ein ausgehobenes Grab, in dem sie sich plötzlich selber liegen sah, und erschrak. Sogleich registrierte sie in ihrem rechten großen Zeh ein heftiges Klopfen.
    Ihre Arme und Beine wurden schwer, und am liebsten hätte sie sich auf der Stelle unter den Kleiderberg verkriechen und einschlafen mögen, in der Hoffnung, Stunden später in Janeks Arm zu erwachen und sich an das Erlebte zu erinnern wie an einen dummen Traum, der nicht das Geringste mit dem wirklichen Leben zu tun hatte.
    Inzwischen sah sie dem Kommenden einigermaßen ernüchtert entgegen. Und dass am Ende so wenige ihrer Einladung folgten, versetzte ihr erneut einen Stich. (Vielleicht ist es ja tatsächlich eine Schnapsidee von mir?, dachte sie. Und jetzt erwarten alle etwas Spektakuläres. Dabei will ich doch bloß, dass sie wissen, wie es hier weitergeht. Aber das ist doch etwas! Oder etwa nicht?)
    Sie drückte die Ecke des Wollschals erneut gegen die Wange, erhob sich und begann die Kleidungsstücke, eins nach dem anderen, aufzuheben und sorgfältig wieder in dem Schrank zu verstauen. Am Ende entschied sie sich für eine weiße Bluse, ihren grauen Trevira-Rock, ihre schwarzen Bally-Schuhe und ihre Süßwasserperlenkette. Und als sie ein paar Minuten später im Badezimmer vor dem Spiegel stand und anfing, sich »die Haare zu machen« (ja, so nannte sie das, sich die Haare machen, wenn sie im Bad nach dem Stielkamm griff und begann, einzelne Strähnen zu packen und leicht aufzutoupieren, um dem Haar im Ganzen mehr Fülle zu geben und die platte, kreisrunde Stelle am Hinterkopf dadurch zum Verschwinden zu bringen), hatte sie ihre Fassung wiedererlangt.
    Wie ein Schauspieler, der seine Rolle auswendig gelernt hat, hatte Johanna sich ein paar Worte zurechtgelegt, die sie sagen würde. Sie hatte sich vorgenommen, nicht lange drum herumzureden, sondern gleich zur Sache zu kommen. Und nun stand sie vor dem Spiegel und sah sich dabei zu, wie sie lautlos die Lippen bewegte.
     
    U lrike stand in Fulda im Schlafzimmer ebenfalls vor dem Spiegel und betrachtete sich, hellhörig für jedes Geräusch im Haus. Sie zitterte am ganzen Leib und hatte sichmühsam die Treppen hochgekämpft. (Denn sie würde eine gute Tochter sein und Johanna nicht enttäuschen, koste es, was es wolle. Und was auch immer geschehen mochte: Ihre Selbstachtung durfte sie nicht verlieren!)
    Konsterniert ließ sie ihren Blick von oben nach unten wandern und wieder hinauf. Denn was sie sah, machte sie traurig. Sie sah welliges Fleisch, blasse Haut und dicke, blau schimmernde Adern und Venen, die an Risse in einer Badewanne erinnerten. Ein ähnlicher Anblick hatte sich ihr nach der Geburt ihres ältesten Sohnes Robert geboten, und damals hatte sie sich geschworen, nie wieder schwanger zu werden. Noch Monate später hatte sich unter ihrer Bluse ein schwerer Hautring gewölbt, und sie hatte sich mit schmerzenden, milchtropfenden Brüsten herumgeschlagen, hatte hartnäckige Brustentzündungen ausgestanden und einen Ehemann erlebt, der, diesen Eindruck hatte sie damals jedenfalls, bei jeder sich bietenden Gelegenheit ins Büro entschwand, um dem häuslichen Lazarett zu entfliehen. Trotzdem waren sowohl Clara als auch Carl nachgefolgt, und der körperliche Preis, den sie dafür zu bezahlen hatte, war am Ende enorm gewesen. Alle drei Schwangerschaften hatte Ulrike als qualvoll und nicht selten deprimierend erlebt, während Rainer, wie unberührt davon, so stolz und selbstzufrieden durch die Welt gelaufen war, als hätte er einen erbitterten Mitkonkurrenten um die internationale Marktführerschaft im LKW-Reifensegment allein und im Handstreich aus dem Rennen geschlagen.
    Sie hatte sich jahrelang aufgeopfert für die Familie, hatte Rainers Launen ertragen (und all seine Fehltritte untrüglich gewittert) und

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