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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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Tee«, antwortete sie, drehte auf dem Absatz um und verschwand.
    Nachdem er ausgiebig getrunken hatte, ließ er sich in die Kissen zurücksinken und schloss die Augen, in der Hoffnung, das Farbenspiel wiederholen zu können.
    Er war in Hanau, immerhin, und er hätte, wenn er in der Lage gewesen wäre, sich aufzurichten, die kaminroten Ziegeldächer der Sternstraße sehen können.
    Es hatte einmal eine Zeit gegeben, in der er davon geträumt hatte, etwas zu werden in dieser Stadt. Steuerberater zum Beispiel. Oder der Mann einer Frau und der Vater eines Kindes. Damals hieß das Kaufhaus »Horton« noch »Hansa«, und Militärfahrzeuge und Chevrolets, Thunderbirds, Buick Rivieras oder, Anfang der 70er Jahre, Dodge Challengers gehörten zum alltäglichen Stadtbild. In der Milchbar am Freiheitsplatz saßen selbsternannte Existentialisten, die Juliette Gréco hörten und französische Zigaretten rauchten, Roy Black zierte das Titelbild der Jugendzeitschrift »Bravo«, und die Beatles verdrehten mit Hits wie »She Loves You, Yeah, Yeah«, »Love Me Do« oder »A Hard Day’s Night« auch Hanaus Jugend den Kopf.
    Auch Konrad hatte sich damals eine Zeitlang wie im Zentrum des Lebens gefühlt. Bis zu jenem sonnigen Junitag des Jahres 1960, an dem all seine Träume mit seinem Sturz vom Fahrrad zerstoben wie wenige Wochen später das »Gloria Lichtspiel-Theater« am Westbahnhof, das eines Nachts in Flammen aufging und Hanaus pechschwarzen Himmel illuminierte. Die Diagnose lautete »Schizophrenie«, und aus dem komaähnlichen Zustand, in dem er sich tagelang befand, erwachte er als ein anderer Mensch, unheilbar.
     
    E r schlüpfte in sein Hemd und stieg in seine Hosen, warf sich zittrig ein Sakko über und verließ die Wohnung. Im Hausflur bemerkte er, dass er weder Socken noch Schuhe anhatte. Umständlich schloss er die Wohnungstür wieder auf, nahm ein Paar Socken aus der Kommode im Schlafzimmerund seine Boots. Die Uhr zeigte 14.46, und Ben, der in diesen Sekunden das Gefühl hatte, wie ein Wasserläufer an der Oberfläche des Lebens entlangzuhuschen, begann zu ahnen, dass sich, wenn nicht ein Wunder geschah, in Kürze ein Riss darin auftun würde und dass er zu sinken begänne, haltlos, so dass das Ertrinken unausweichlich würde.
    Er musste sich im Flur an der Wand abstützen, um nicht umzukippen, streifte sein Sakko wieder ab und warf es achtlos auf den Fußabtreter. Jetzt erst entfaltete sich die volle Wirkung des Alkohols (das heiße Bad hatte dessen Wirkung offenbar um ein Vielfaches verstärkt).
    Ben ließ sich auf den Boden sinken und die Schuhe und Socken neben sich fallen und lehnte den Kopf kraftlos an die Wand. In seinen Schläfen hämmerte der Puls, und auf seinem Hemd bildeten sich auf Höhe der Brust, am Rücken und unter den Armen erste Schweißflecken.
    »Ist Ihnen vielleicht nicht gut?«, vernahm er plötzlich wie von fern die Stimme seiner Nachbarin, Frau Karlsberg. Mit letzter Kraft wandte er sich zu ihr um, wischte sich den Schweiß von der Stirn und antwortete: »Ist schon okay!« (Er konnte sich nur wundern, wie flüssig ihm die drei Worte über die Lippen gekommen waren, denn seine Zunge lag schwer und träge im Mund.)
    Frau Karlsberg war eine Rentnerin mit lilafarben schimmernden Haaren und kleinen wachsamen Augen, deren Blick manchmal etwas Stechendes bekam. Hin und wieder goss sie seine Blumen (so wie er umgekehrt ihre), wenn er unterwegs war, um eine Sportgröße zu interviewen oder sich, was zwei-, dreimal im Jahr vorkam, im Hochschwarzwald mit ehemaligen Klassenkameraden zu Schießübungen und anschließenden Saufgelagen traf. (Jörn Schumacher, dieser Angeber, hatte es über Umwege zu einer eigenen Firma für Schusswaffen undSicherheitstechnik, 25 Kilometer von Freiburg entfernt, gebracht und prahlte seither mit seinen Schießkünsten. Und seit Ben es gelungen war, ihm Freikarten für ein Länderspiel der A-Nationalmannschaft im Dreisamstadion zu besorgen, gehörte er zu jenen Auserwählten, denen Jörn, ohne zu zögern, eine Heckler & Koch SLB 2000 in die Hand gab, um auf leere Bierdosen oder andere Ziele zu ballern. Beim letzten Mal war es ihnen gelungen, in zwei Tagen sagenhafte elf Kästen Hefeweizen zu leeren.)
    Umständlich versuchte Ben, die eine Socke über den Fuß zu ziehen, strauchelte, versuchte es von neuem und gab schließlich auf. Die Schweißflecken auf seiner Brust wuchsen sich inzwischen zu ansehnlichen Formationen aus. Während er, ohne seine Nachbarin weiter zu beachten,

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