Die Ängstlichen - Roman
gelegt.
Breitenbach, ein untersetzter Mittsiebziger mit freundlichen Schweinsäuglein, auffallend buschigen und an Graucho Marx erinnernden Augenbrauen, der sein halblanges zerzaustes Haar stets unter einer dunkelblauen Franzosenkappe trug, war ein Schwarm aus vergangenen, weit zurückliegenden Tagen, gegen den Finkbeiner mit seinem wirren Blick, der einen durch fensterglasdicke Gläser hindurch zu ertasten suchte, weltfremd und geradezu sonderbar wirkte. In Johannas Augen war Finkbeiner ein Kauz, dessen Wesen ihr so verschlungen und undurchschaubar erschien wie die Kommentare, die er in seiner unleserlichen Handschrift regelmäßig am Rand seiner Partituren hinterließ.
Eine Zeitlang hatte Johanna vermutet, die beiden verbinde womöglich eine heimliche, vor der Welt gut gehütete Liebesbeziehung, und all die Huldigungen, die Breitenbach ihr seit Jahren schenkte, seien bloßes Getue. Doch dann hatte sie Finkbeiner eines Tages dabei beobachtet, wie er im Anschluss an eines der sonntäglichen Orgelkonzerte in der nahen Friedenskirche, halb verborgen hinter dem Stamm einer Linde, eine Unbekannte in einem beigefarbenen Regenmantel unbeholfen im Arm gehalten und geküsst hatte.
Johanna wäre lieber zu Bett gegangen, um diesen Tag, durch den sie unsicher, mit schwerem Herzen und mehr oder weniger unkonzentriert getaumelt war, mit der entspannenden Lektüre einiger Seiten aus dem »Goldenen Blatt« vergessen zu machen.Vielleicht aber brachten die beiden und ein Gläschen Portwein sie zu später Stunde ja noch auf andere Gedanken. Und so erhob sie sich entschlossen aus ihrem Sessel, als es klingelte, legte die Fernbedienung auf den Tisch und ging zur Tür.
Kurz darauf saßen die Musiker ihr im Wohnzimmer gegenüber, und Breitenbach nahm Anlauf zu einer seiner im Kirchenvorstand gefürchteten Tiraden gegen die Verunreinigung der klassischen Musik durch all diese nichtswürdigen Neutöner, die in der Friedenskirche sonntags neuerdings ebenfalls zum Zuge kamen, Nichtskönner, so Breitenbach, die nicht einmal imstande waren, ein eingestrichenes Cis von einem hohen C zu unterscheiden.
Finkbeiner, der sich schlaff auf der Couch lümmelte, sein halb gefülltes Portweinglas mit den unanständig großen Fingern seiner rechten, dicht behaarten Hand umklammerte und dann und wann an seiner Brille ruckte, schien ganz woanders zu sein.
Johanna versuchte, Breitenbachs Grollen, so gut es ging, zu ignorieren, und fand Gefallen am Portwein, so dass sie ihr Glas bereits nach einer Viertelstunde von neuem füllte.
»Du wirkst bedrückt, liebes Hannchen«, sagte Finkbeiner plötzlich, wie aus seinen Träumen erwacht, und fixierte sie mit seinem wirren Blick, als erwarte er unverzüglich eine Antwort auf seine Unterstellung. »Dir liegt doch was auf der Seele!«
Johanna sah ihm in die Augen, ohne dass es ihr gelang, seinen Blick wirklich zu fixieren. »Janek ist seit Tagen nicht mehr nach Hause gekommen«, sagte sie und hob ihr Glas ein Stückchen an, hielt aber in ihrer Bewegung abrupt inne.
»Der alte Schwerenöter lässt sicher mal wieder kräftig die Puppen tanzen«, rief Breitenbach aufgekratzt, seine Kappe war ihm in die Stirn gerutscht.
»Frederik!«, rief Finkbeiner empört und strich sich mit der Hand über sein pomadisiertes, streng nach hinten gekämmtesHaar, das im Nacken zusammenlief und dort abstand wie die Schwanzwurzel einer Ente.
»Nein, lass nur!«, sagte Johanna, an Finkbeiner gerichtet, mit einem angedeuteten Nicken. »Vielleicht hat er ja recht.«
Finkbeiner machte Anstalten, ihr zu widersprechen, hielt sich aber zurück.
»Komm, mach doch ein bisschen Musik, Hannchen«, sagte Breitenbach, dessen Kugelbauch sich unter dem blau-weißen Matrosenhemd wölbte. Gleichzeitig zog er wie selbstverständlich seine Pfeife gemeinsam mit dem Tabaksbeutel aus der Tasche seiner Cordjoppe hervor, öffnete den speckigen Lederbeutel und machte sich daran, sie zu stopfen. »Du hast doch nichts dagegen, oder?«, sagte er und schielte milde hinüber zu Johanna.
»Nein, mach nur!«, antwortete sie, erhob sich aus ihrem Sessel und ging hinüber zum Buffet, aus dem sie einen Aschenbecher hervorholte und auf den Tisch stellte, und ging dann zu der Stereoanlage.
»Wie wär’s mit Gershwins ›Rhapsody in Blue‹?«, rief sie in den sich langsam mit Breitenbachs stark nach Wildkirsche riechendem Tabakgeruch füllenden, spärlich beleuchteten Raum hinein.
»Nein, bloß nicht!«, rief Finkbeiner und gestikulierte wild mit den Händen,
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