Die Ängstlichen - Roman
Straßenköter auseinander, die sich kurz und mehr oder weniger desinteressiert beschnüffelt hatten. Nervös grub Helmut in seiner Manteltasche nach seinem Spray. Eine Viertelstunde später verließ er das Haus.
Ja, er brauchte Zuspruch, so kurz und flüchtig er auch seinmochte. Denn mit jedem Schritt, den er der Garage, in der sein silbergrauer Mercedes 280 E (mein »Bolide«, O-Ton Helmut) stand, näher kam, wurden seine Beine schwerer. Doch wer dachte in diesen Minuten an ihn? Kein Mensch. Dabei hätte es genügend Leute gegeben, die in seiner Schuld standen. Denn hatte er nicht gerade zuletzt wieder allen gezeigt, was in ihm steckte?
Was hatte er nicht alles unternommen, um die Preisverleihung der Hanauer Bridgeclub-Meisterschaften zu einem Event von historischer Größe zu machen, von dem alle Beteiligten noch Wochen später sprachen. Helmut war sämtlichen Hanauer Einzelhändlern so lange zu Leibe gerückt, bis sie sich schließlich entnervt bereit erklärt hatten, Gutscheine für eine Flugreise nach Berlin für zwei Personen, ein Paar Head-Ski, zwei Paar Lloyd-Kalbslederschuhe, Modell »Bristol«, eine »The Bridge«-Geldbörse aus Rindsleder sowie vieles mehr zu stiften. Doch wo waren nun all jene, die seinerzeit in den Genuss der von ihm an Land gezogenen Preise gekommen waren? Jetzt, da es ihn nach Zustimmung und Beistand verlangte?
Im Geiste sah Helmut Doktor Bender eine hauchfeine, mit einer Mikrosonde bestückte Drahtschlinge in seine Eichel einfädeln und sein Inneres mit kennerhaftem Kopfnicken durchleuchten. Am liebsten wäre er auf der Stelle zurück in sein Haus gelaufen. Doch weil die Angst vor dem Unbekannten inzwischen größer war als die vor Doktor Benders vermutlich ziemlich perfiden Handgriffen, gab Helmut sich einen Ruck, stieg in seinen Wagen ein und startete mit Blick in den Rückspiegel den Motor.
Kurz darauf zogen die grauen Blocks der Weststadt an ihm vorbei. Phantasielose, baukranhohe und von irgendwelchen Misanthropen im städtischen Bauamt verbrochene Ungetüme tauchten im Rückspiegel auf und verschwanden.
Städte waren Ideen, Ideen von Zusammenhalt und Identität, aus dem unverwechselbaren Geist des Ortes geborene Einbildungen. Die Idee jedoch, die Hanaus Stadtplaner von ihrer Stadt hatten, war die einer Großstadt im Kleinstadtformat mit den Vorzügen des Dorfes ohne dessen hinterwäldlerische Enge. (Kurz: Die Quadratur des Kreises! Einfach unmöglich! Jeder, der nur einmal in Hanaus Kleinstadtsumpf versackt war, konnte das bestätigen.)
Zum Totlachen, dachte Helmut. Denn wenn er samstags, was ohnehin nur alle Schaltjahre mal vorkam, über den Wochenmarkt lief und in die schroffen, ungeschlachten Gesichter der Bauern aus den umliegenden Dorfflecken sah, die mit erdverkrusteten Händen, als hätten sie jede einzelne Kartoffel eigenhändig und unter Aufbietung ihrer letzten Lebensenergien ausgegraben, den snobistischen Hanauern ihre biologisch kontrolliert angebauten Waren feilboten, blickte er dem wahren Geist Hanaus ins Auge: der Provinzialität in Reinkultur.
Die Stadt, die sich seit langem damit brüstete, Geistesgrößen wie die Brüder Grimm oder den Komponisten Paul Hindemith hervorgebracht zu haben, hatte seither nicht einmal mehr ansatzweise das eingelöst, wofür die älteren und ruhmreichen Grimms ebenso wie ihr jüngerer Bruder, der Radierer und Maler Ludwig Emil Grimm oder Hindemith selbst dereinst gestanden hatten, nämlich für den Triumph des Geistes über das Gewöhnliche, Durchschnittliche.
Nein, Hanau blieb, was es immer war: eine Art Durchgangsstation, in die man ohne eigenes Zutun geriet und die man – wie die Grimms und auch Hindemith – früher oder später in Richtung zukunftsträchtigerer Orte wie Frankfurt, Göttingen, Kassel oder das ferne Berlin verließ, um sich zu verwirklichen. So fand die Stadt am Main denn auch in den vielfältigen Lebensberichten der Grimms, welche die germanische Sprachwissenschafteinst ebenso aus der Taufe gehoben hatten, wie sie später, auf Anregung Achim von Arnims, die »Kinder- und Hausmärchen« sowie die »Deutschen Sagen« herausgaben, bloß anekdotische Erwähnung: als Geburtsort, der den Beginn von etwas Außergewöhnlichem markierte, dessen Entfaltung jedoch andernorts stattfand. Ein an sich bedauerlicher Umstand, denn als Kind in den weitläufigen Mainauen mit schützend gegen die tiefstehende Sonne an die Stirn gelegter Hand zu stehen und den gemächlich davontuckernden Schiffen nachzustarren hatte für
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