Die Ängstlichen - Roman
nadelstichartigen Wasserstrahlen ab und drehte den Hahn zu.
Nachdem er sich in seinen Frotteebademantel gehüllt und seine Nase gesäubert hatte, marschierte er selbstzufrieden in die Küche, öffnete den Kühlschrank und entnahm ihm eine Flasche Heineken.
R ainer sah blinzelnd auf seine Armbanduhr, konnte aber nichts erkennen, denn unter dem Eindruck des Alkohols, der in seiner Blutbahn zirkulierte wie ein Bazillus, der es lüstern auf eine Machtprobe mit seinen weißen Blutkörperchen abgesehen hatte, schien es, als tanzten die beiden goldenen Zeiger vor dem perlmuttfarbenen Zifferblatt Tango. Wenn er sich nicht täuschte (was nach vier oder fünf Gläsern Pils, drei Wodka und inzwischen ebenfalls drei oder vier Rémy Martin durchaus sein konnte), war es kurz nach halb zehn. Seit er überstürzt von zu Hause geflohen war, waren mehr als fünf Stunden vergangen. Und um Ulrikes zu erwartende Beschimpfungen abzublocken, hatte er sein Handy ausgeschaltet.
Seine Kopfhaut kribbelte und begann empfindlich zu jucken. In seinen Waden spürte er als dumpfes Klopfen seinen Puls, so als trommele eine Hand von innen wütend gegen die Epidermis. Zudem schienen unsichtbare Gewichte seine vor ihm flach auf der Theke liegenden Hände fest dagegenzudrücken. Am schlimmsten aber: In seinem Magen brannte es, als ätze seine Magensäure seit ein paar Minuten ungehindert winzige Löcher in dessen Schleimhaut.
Rainer hatte seit dem Mittagessen nichts mehr zu sich genommen und seither auch keinen Hunger verspürt. Dochnun schwappte die Magensäure bis hinauf in die Speiseröhre, und manchmal sogar noch höher, so dass sogar sein Gaumen brannte. Für solche Fälle trug er gewöhnlich weiße und schnell wirkende, angenehm nach Koffein schmeckende Kautabletten der Marke Riopan bei sich, die ihm zumeist innerhalb weniger Minuten Linderung verschafften. Doch diesmal stieß er vergebens seine Hand in die Tasche seines Sakkos. Wie es aussah, hatte er die orangefarbene Schachtel im Büro liegengelassen.
Ja, er war betrunken. Na und! Anders wäre er überhaupt nicht imstande gewesen, das, was ihm von Ulrikes Seite drohte, fürs Erste wegzuschieben und zu vergessen. Draußen fuhren die LKWs, begleitet von einem gedämpft an sein Ohr dringenden Dröhnen, durch die Nacht, und Rainer hatte, mit Blick auf das vielversprechende Dekolleté der Bedienung, das Gefühl, noch ewig auf seinem Barhocker sitzen bleiben zu können. Er fühlte sich, bis auf das störende Sodbrennen, sauwohl, und die Bedienung als Ganzes hatte es ihm angetan. Sie hieß Rita, das jedenfalls stand auf dem Namensschildchen an ihrer Brust.
Ihrer Vorgängerin, einer ebenfalls ziemlich attraktiven Blondine namens Claudia, die ihre Schicht kurz nach seinem Eintreffen in der Raststätte beendet und sich mit einem Augenzwinkern von ihm verabschiedet hatte, hatte er, weil ihm nichts Besseres eingefallen war und er spontan Lust auf ein kleines Spielchen mit ihr gehabt hatte, erzählt, er sei von der Kriminalpolizei, Abteilung verdeckte Ermittlungen.
»Ein Herr von der Polizei, wie ich höre«, sagte die Neue und sah ihn interessiert an.
»Wir observieren hier jemanden«, murmelte Rainer und spürte, dass seine Zunge erste Anzeichen von Funktionsverweigerung zeigte.
»Nein, wirklich!«, sagte sie interessiert, rollte mit den Augen und sah sich neugierig in der Gaststätte um, in der sichgerade mal eine Handvoll Gäste verlor. »Klingt ja unheimlich spannend.«
»Halb so wild!«, antwortete Rainer und malte sich aus, wie es wäre, ihr näher zu kommen. Er hatte Lust auf fremde Haut und verspürte plötzlich das heftige Verlangen, sich vor Ulrikes zu erwartenden Attacken eine Weile in Sicherheit zu bringen und sich in trostspendende Arme zu stürzen.
»Einen Espresso!«, sagte er und verfolgte durch sacht vor seinen Augen hin und her gehende Schleier Ritas routinierte Handgriffe an der Kaffeemaschine.
Als sie kurz darauf die Tasse vor ihm auf die Platte stellte, legte sie ihm plötzlich sachte die Hand auf die Schulter und tat, als entferne sie eine Fussel. Da hätte Rainer am liebsten auf der Stelle zugepackt und sich genommen, wonach ihn seit ein paar Minuten heftig verlangte.
Die Spitzen ihrer kinnlangen brünetten Haare kringelten sich auf Höhe ihrer Wangen wie Vogelfedern nach innen, und wenn sie lachte, erschien sekundenlang ein Grübchen auf ihrem kantig zulaufenden Kinn. Stattdessen riss Rainer das Zuckerpäckchen auf, das auf dem Unterteller seiner Tasse lag, und
Weitere Kostenlose Bücher