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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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seinen Augen spielte Johanna das Spiel der von allen anderen ins Unrecht Gesetzten mit eisiger Berechnung. Trotzdem nahm er sich vor, auch auf sie zuzugehen. Gegen seine innere Überzeugung.
    Denn in Helmuts Augen war Familie ein globales Missverständnis, die fehlgeleitete Idee von Blutsbande und Solidarität, der Antipode jeder Eigenständigkeit und vor dem Hintergrund zunehmender Individualisierung auf lange Sicht dem Untergang geweiht. Eine nostalgische, falsch verstandene und aus rein sentimentalen Beweggründen gestiftete Kameraderie in ihrer erdrückendsten Form. Einer für alle, alle für einen – o nein, mit ihm war das nicht zu machen! Er war kein Musketierund würde nie einer sein. Helmut ging dem vielarmigen Monstrum Familie, seit er denken konnte, aus dem Weg. Mied Familienfeiern, ignorierte die Geburtstage sämtlicher Anverwandter bis hin zu seinem eigenen und empfand überraschende Besuche von Mitgliedern dieses fragwürdigen Zirkels als pure Nötigung. Denn was zum Teufel gingen ihn die Augenprobleme seiner Mutter an? Oder der Wahnsinn seines Bruders Konrad? Er hatte nie an einen genetisch bedingten Zusammenschluss geglaubt. Wie denn auch?
    Sein Vater hatte sich als labil und führungsschwach erwiesen und seine Mutter als eine Frau, die ihre Vorstellung von Sippschaft geradezu eifersüchtig gegen alle alternativen Daseinsformen verteidigte. All die Jahre hatte sich Helmuts Entscheidung für ein Leben als Individualveranstaltung als einzig richtige erwiesen (auch wenn er insbesondere von seiner Mutter und seiner Schwester Ulrike dafür mehr als einmal angegangen worden war). Im Fall der Jansens hatte einer dem anderen bloß mehr oder weniger tatenlos beim Untergang zugesehen. Darum hatte er sich als Jugendlicher auch, anders als seine Freunde, für Tennis und gegen Fußball, Handball oder Hockey entschieden, weil er an den Einzelnen und seine Fähigkeiten glaubte und nicht an die Gemeinschaft.
    Doch nun, da höhere Mächte sich offenbar gegen ihn verbündet hatten, suchte er die Nähe derer, die er für gewöhnlich floh. Helmut hielt sich eigentlich für einen unbeugsamen Realisten, der nicht bei der erstbesten Sturmböe einknickte. Auf Ballhöhe sein, nannte er das (und damit meinte er, dass man die Vorhaben des Gegners vorausahnte und dessen Attacken kühl parierte). Trotzdem spürte er plötzlich, wie er so mit geschlossenen Augen in dem sommerlichen, auf ihn niederprasselnden Duschwasserregen stand, eine seltsame Wehmut in sich aufsteigen. Einerseits hatte er das beruhigende Gefühl, dass ihmlediglich eine Art Prüfung bevorstand, eine Hürde, die es zu nehmen galt, und dass sein Innerstes offensichtlich ein wenig in Unordnung geraten war. (Welches Innere? Helmut hielt die Seele von jeher für eine Erfindung der Kirche und anderer Scharlatane und vertraute ausschließlich dem, was er hörte und sah und mit den eigenen Händen berühren konnte.) Andererseits überfiel ihn immer wieder sekundenlang die Furcht, vor dem Schicksal klein beigeben zu müssen, bloß weil sein Körper verrücktspielte.
    Deshalb sprach nichts dagegen, sich mit Ben endlich einmal richtig auszusprechen. Doch er konnte nicht im mindesten erkennen, dass Ben es auf eine solche Aussprache anlegte. Ben agierte auf einem anderen Planeten, lebte in einer von verhängnisvollen Fehleinschätzungen und Laschheit geprägten Kriegsdienstverweigerer-Welt.
    Im Grunde war es Helmut ziemlich gleichgültig, was Ben trieb, solange die bestehenden Hierarchien davon unberührt blieben. Und es ärgerte ihn, dass ihn ein, zwei Tropfen Blut im Urin (Okay, es waren ein paar mehr, na, und wenn schon!) zu derlei sentimentalen Überlegungen verleiteten und ihn so weit brachten, ernsthaft darüber nachzudenken, nach seinem Versagersohn die Hand auszustrecken.
    Er drehte ärgerlich den Kopf zur Seite und schlug die Augen auf. Wahrscheinlich brauche ich bloß ein Glas Bier, um wieder klar denken zu können, dachte Helmut mit Blick auf sein schlaff und verschrumpelt herabhängendes gerötetes Glied, das aus dem plattgedrückten Schamhaarnest in der Leistengegend lugte wie ein noch flugunfähiger Habicht aus seinem Horst. Und in der Gewissheit, in dem mentalen Kloster, in das seine Seele (!) sich für ein paar Sekunden zur Besinnung begeben hatte, glücklich zu sich selbst zurückgefunden zu haben, beförderte Helmut den Drehknopf der Mischbatterie entschlossenin kühlere Regionen, rieb seinen Oberkörper in kurzen, zackigen Bewegungen unter den eisigen

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