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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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um sein Missfallen auszudrücken.
    »Was ist mit Addinsell? Das ›Warschau-Konzert?‹«
    »Nein, ja nicht!«, stimmte Breitenbach ein.
    »Dann also Richard Strauss, ›Tod und Verklärung‹ von den Berliner Philharmonikern unter Karajan?«
    »Zu düster! Was anderes!«, rief Breitenbach energisch.
    »Dann Mendelssohns Vierte!«
    »Jaaaaaa! Na also!«, rief Finkbeiner erleichtert, erhob sich feierlich, wie von unsichtbaren Fäden hochgezogen, und begannim Gleichklang der ersten Töne einen imaginären Taktstock zu schwingen.
    Eine halbe Stunde später, nachdem sich jeder noch das eine oder andere Gläschen Portwein genehmigt hatte, hatte Finkbeiner sich seines Sakkos entledigt und stand schwitzend und noch immer kerzengerade auf dem Sofa, von wo aus er in wilden, spasmischen Zuckungen ein imaginäres, offenbar in Johannas Wohnzimmerschrank vermutetes Orchester dirigierte, denn immerzu wiesen seine zackig durch die Luft schwirrenden Arme in dessen Richtung.
    Johanna hing nach dem vierten Gläschen Port beschwipst in ihrem Sessel und kämpfte gegen das Zufallen ihrer Augenlider. Breitenbach, der sich inzwischen ebenfalls seiner Jacke entledigt hatte, lief, die dampfende Pfeife in der Linken, mit geschlossenen Augen im Zimmer auf und ab und modellierte mit der rechten Hand eingebildete Zeichen und Kringel in die bereits zum Schneiden dicke Wohnzimmerluft. Bis nach weiteren gut achtunddreißig Minuten Robert Schumanns, von den Wiener Philharmonikern unter der Leitung von Lorin Maazel gespielte Sinfonie Nummer 2 zu Ende ging, Finkbeiner schweißüberströmt auf Johannas Couch zusammensackte und mit letzter Kraft, wie aus einer gut einstündigen Trance erwacht, zu seiner Überraschung feststellen musste, dass sowohl Johanna, die schnarchend in ihrem Sessel hing, als auch Breitenbach, der ausgestreckt und mit gekreuzten Beinen und vor der Brust gefalteten Händen auf dem Boden lag, eingeschlafen waren. Seine abgebrannte Pfeife hatte er auf dem breiten Rand des Übertopfs der in der Ecke stehenden Yuccapalme deponiert.
    Als Johanna drei Stunden später mit schmerzendem Rücken, schwerem Kopf und brennenden Augen im Halbdunkel ihres Wohnzimmers erwachte und sich irritiert umsah, waren Finkbeiner und Breitenbach verschwunden. Doch die Erinnerungan die gemeinsam verbrachten Abendstunden stieß ihr plötzlich so sauer auf wie der Portwein, der ihr hochzukommen begann. Mit schnellen, eckigen Schritten lief Johanna im Dunkeln hinüber in die Küche, machte überstürzt Licht und erbrach sich keuchend ins Spülbecken.
     
    H elmut, der von einem gewissen Moment an aufgehört hatte, darauf zu achten, was und wie viel er trank, klammerte sich, um nicht nach hinten umzufallen, mit beiden Händen an den Rand des Tresens. Er hatte seine Beine um die des Barhockers geschlungen und bot, gelinde gesagt, einen erbärmlichen Anblick: Das verschwitzte schmutziggraue Haar hing ihm wirr in die Stirn. Die Tränensäcke unter seinen geröteten Augen erinnerten an prall mit Wasser gefüllte blaue Luftballons. Und auf seiner Oberlippe standen winzige Schweißperlen, als hätte ein Vorstadtmaler ihm mit seinem Pinsel silberfarbene Tupfen verpasst. Und seine Nase war – wie nicht anders zu vermuten – verstopft!
    Sein Kopf hatte in diesen Minuten etwas von einem zum Bersten gefüllten Kleiderschrank, in den jemand wahllos Klamotten hineingestopft hatte. Sobald Helmut eine Schranktür öffnete, fielen ihm auf der Stelle diverse Sachen entgegen: der Schrecken in seinen unterschiedlichen heimtückischen Verkleidungen.
    Er versuchte, an etwas anderes als an seine Blase zu denken, aus der, das hatte er schmerzvoll zur Kenntnis nehmen müssen, weiterhin Blut floss, doch er konnte es nicht. Die Welt, zu der sein Haus, sein Wagen und seine Freunde gehörten, hatte irgendwann im Laufe des Abends aufgehört zu existieren. Er war allein. Versetzt in ein fremdes Land, dessen Grenze der Tod war, ganzallein – bis auf einen Menschen, mit dem er vielleicht über die Gräuel, die in diesem Land herrschten, sprechen konnte: Lisa.
    Sie stand hinter dem Tresen, keinen halben Meter von ihm entfernt, ein freundliches, mit großen, weit auseinanderstehenden braunen Rehaugen gesegnetes Wesen, das ihn mit schwerem, auf den Arm gestütztem Kopf in einer Mischung aus Mitleid und leichtem, aus ihrer Müdigkeit geborenen Desinteresse ansah. Sie war die Vernunft, die Wirklichkeit, sein letzter Halt. Und Helmut, das spürte er, brauchte sie. Sie war ein Gesicht, eine Stimme,

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