Die Ängstlichen - Roman
etwas, an das er sich wenigstens eine Zeitlang klammern konnte.
Inzwischen entglitten ihm seine Gedanken immer wieder. Er träumte, mit offenen Augen kopfüber in einen Abgrund zu stürzen. Erschrocken wandte er sich von den inneren Bildern ab und beugte sich reflexartig noch weiter nach vorn über den Tresen, um nicht tatsächlich das Gleichgewicht zu verlieren.
»Geh nach Hause«, sagte Lisa mit sanfter Stimme und legte den Kopf beschwörend leicht schräg. »Na, komm! Es ist schon fast vier!«
»Gut! Aber du kommst mit!«, sagte Helmut im phonetisch verqueren Sprech des Betrunkenen und stach mit seinem ausgestreckten, leicht schwankenden Zeigefinger nach ihr.
»Ich rufe dir ein Taxi, okay?«, antwortete sie und griff nach dem Telefonhörer.
»Aber du kommst mit!«, wiederholte er.
»Ist gut!«, sagte sie beschwichtigend und drückte die gespeicherte Taxi-Rufnummer.
Betrunkene waren für sie wie Babys, lallende Geschöpfe, animalisch und zügellos.
»Ich und du, wir …«, stammelte Helmut mit flatternden Lidern und spürte, wie ihn plötzlich und ohne dass er in der Lage gewesen wäre, etwas dagegen zu unternehmen, dieKräfte verließen. Seine Hände verloren ihren Halt, rutschten an der glatten Oberfläche des Holztresens ab und grapschten ins Leere. Sein Oberkörper glitt nach hinten, Helmut fiel um und ging rückwärts zu Boden. Wie ein Fötus, der mit geschlossenen Augen und angezogenen Gliedmaßen durch lichtlose Weiten trieb, lag Helmut auf dem Boden und schlief.
Als er gut siebeneinhalb Stunden später im Schlafzimmer seines Flachdachbungalows in der Kölner Straße mit pochenden Schläfen und vom Sturz geschwollener rechter Wange hinter halb heruntergelassenen Rollläden erwachte und das zwischen den Ritzen hereindringende grelle Vormittagslicht sein Gesicht mit dünnen hellen Streifen übergoss, fühlte er sich seekrank, so als sei er im Schlaf an Bord eines Hochsee-Liners durch ein fürchterliches Unwetter gejagt. Noch dazu musste er feststellen, dass im Raum ein stechender Uringeruch hing und niemand anderes als er selbst dafür die Verantwortung trug. Aber wie war er überhaupt nach Hause gekommen? Die Taste für Wiedereinfügen auf Helmuts innerem Keyboard war, wie es aussah, entfernt worden.
»Scheiße!«, murmelte er, wuchtete sich schwerfällig aus dem Bett und wankte auf zitternden Beinen hinüber ins Bad. Der Blick in den mit winzigen getrockneten Zahnpastaspritzern gesprenkelten Spiegel glich dem in ein aufgeschlagenes Buch, dessen Buchstaben sich auf rätselhafte Weise in einem Meer dunkler Punkte und Pigmente aufgelöst hatten. Erfolglos versuchte Helmut, aus dieser leicht verquollenen, an die geröteten Gesichter von Bergsteigern erinnernde Landschaft aus Runzeln, Bartstoppeln und tiefen Hauteinschnitten eine auch nur halbwegs brauchbare Information herauszulesen. Nein, dieses Gesicht war leer und nichtssagend und versprühte bestenfalls den Charme einer Wasserleiche. Undnichts ließ ihn in diesen Sekunden daran glauben, alsbald darin blühendes Leben erkennen zu können.
Entgeistert wandte er sich ab, schob zitternd den Duschvorhang beiseite und stellte sich unter den Duschkopf. Doch erst als die gleichmäßig auf ihn einströmenden Wasserwellen seine Kleider vollkommen durchdrungen hatten und das Hemd und die Hosen schwer zu werden und ihn nach unten zu ziehen begannen, war Helmut imstande, Widerstand zu leisten und die Glocke, die ihn die letzten Minuten scheinbar luftdicht umschlossen hatte, zu durchstoßen: Er kam zu sich.
Zehn Minuten später stand er barfuß, mit geputzten Zähnen und in seinen Bademantel gehüllt in der Küche, hielt den Telefonhörer an sein linkes Ohr und lauschte auf das Röcheln der Kaffeemaschine.
Weil er das drängende Verlangen nach einer menschlichen Stimme verspürt hatte und einen aufmunternden akustischen Klaps brauchte, ehe er das Haus verließ und in Doktor Benders Praxis ging, rief er, was er bereits bereute, in seiner Bedürftigkeit Johanna an. (Wieso ausgerechnet Johanna, diese Meisterin der Demotivation? Bei Gott, er musste wahrlich ziemlich verwirrt sein!) Und ihr kurzes nichtssagendes Telefonat, in dem Johanna nichts unversucht ließ, ihn mit ihrer immerzu um Janek kreisenden Sorge anzustecken, verlief aus Helmuts Sicht ziemlich unerfreulich.
»Also dann, Mutter!«, sagte er und legte, ohne Johannas Erwiderung abzuwarten, einfach auf. Und so gingen sie schon nach wenigen Minuten wie zwei einander zufällig über den Weg gelaufene
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