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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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(womöglich, dachte Johanna, hatte man sie wie Tiere in dunklen unterirdischen Verließen zusammengepfercht und bei Brot und Wasser gehalten). Eine junge Frau am äußeren linken Bildrand blinzelte ungläubig in die Kamera.
    In ihrem Alter, dachte Johanna, habe ich noch geglaubt, der Sinn des Lebens bestehe darin, Ziele zu haben und sich für Dinge einzusetzen, die das Dasein lebenswerter machten und mit Sinn erfüllten. Doch wenn Johanna nüchtern zurückblickte, hatte sie keineswegs den Eindruck, all die hinter ihr liegenden, unwiederbringlich vergangenen Jahre mit Bedeutung oder dergleichen erfüllt und etwas halbwegs Sinnvolles mit ihnen angestellt zu haben. Im Gegenteil: Sie hatte einen labilen, geisteskranken Mann geheiratet, dessen Paranoia ausgereicht hatte, um über Jahrzehnte hinweg die ganze Familie in Schach zu halten. Ihre Kinder hatten sich, erwachsen geworden, als verbohrte, undankbare Geschöpfe entpuppt. Und zu guter Letzt war sie an einen zwar reizenden, aber unrettbar spielsüchtigen polnischen Hasardeur geraten, der sein spärliches Einkommen an Pferdewetten hängte, Schindluder mit seiner Gesundheit trieb und nicht im Mindesten Rücksicht darauf nahm, was man einer vom Missgeschick geplagten Frau wie ihr zumuten durfte.
    Wie sie es auch drehte und wendete: die paar glücklichen Momente, die sie hatte erleben dürfen (die Geburt ihres ersten Sohnes Helmut, Bens Erstkommunion oder den ersten Kuss von Georg Harlan), waren an zwei Händen abzuzählen. Der Rest war Schinderei gewesen: Überlebenskampf, Krieg und das verzweifelte Hoffen auf eine Besserung, die nicht eintrat. (In denersten Nachkriegstagen war sie bei Wind und Wetter mit dem Geld und den Zigaretten, die sie von den Amis dafür bekam, dass sie deren Sachen wusch, mit dem Fahrrad bis nach Gelnhausen gefahren, um sie gegen Brot, Speck, Butter und Milch einzutauschen.) Und heute? Heute hatte sie nur noch den einen Wunsch: dass man sie endlich in Ruhe ließ und dass das alles baldmöglichst aufhörte! Ulrikes sich zuletzt auf geradezu unverschämte Weise äußernde Launenhaftigkeit, Helmuts nervtötende Besserwisserei und Janeks sie regelmäßig zur Verzweiflung treibende Rücksichtslosigkeit (dass sie noch immer kein Lebenszeichen von ihm hatte, erfüllte sie zwar auch weiterhin mit Besorgnis, steigerte aber inzwischen auch ihre Wut). Von der anhaltenden Sorge um Konrad ganz zu schweigen.
    Missmutig schaltete sie den Fernseher aus und schloss die Augen, denn seit sie der graue Star plagte, hatte sie ohnehin das Gefühl, alles wie durch Wasser zu sehen. Jeder Gegenstand unscharf und manchmal kaum noch zu erkennen, jedes Gesicht wie hinter Zellophan.
    Zum halb geöffneten Fenster drang das trockene Husten eines schwerfällig anspringenden Fahrzeugmotors herein, untermalt vom enervierenden Brummen von Heinz Caspars Rasenmäher, mit dem der Alte (der nach Johannas Dafürhalten seit einiger Zeit nicht mehr ganz richtig im Kopf war) alle paar Tage das bestenfalls fünf Quadratmeter große, schmutzig grüne und von verkrüppelten Johannisbeerbüschen eingegrenzte Sportrasenstück hinter dem Haus mit der Verachtung eines Mannes traktierte, dem jedes sichtbare Zeichen natürlicher Veränderung ein Dorn im Auge war.
    Wenig später konnte sie zu ihrer Überraschung beobachten, wie Caspar, mit einem leichten Mantel bekleidet und einer Reisetasche, auf die Straße lief und in ein wartendes Taxi stieg. Offenbar hatte er die anhaltenden Querelen um denverschwundenen Lottoschein satt und die Konsequenzen gezogen und das Weite gesucht.
    Auch Johanna war auf dem Weg zum Hinterausgang ihres Lebens. Das flüchtige Crescendo, mit dem ihr Leben einst begonnen hatte, würde mit einem ausführlichen, in Moll gehaltenen Decrescendo ausklingen, einer Abschiedsvorstellung, zartbitter.
    Ich muss die Kinder verständigen, schoss es ihr blitzartig durch den Kopf, das hätte ich ja fast vergessen! Muss sie einladen, alles arrangieren, das Nötige einkaufen. Ja, ich will sogleich damit beginnen.
    Doch wen rufe ich zuerst an, wen lade ich als Ersten ein?, überlegte sie fieberhaft. Zuerst Helmut? Oder doch lieber zuerst Ulrike? Aufgewühlt erhob sie sich und lief, ganz in Gedanken, zum Telefon.
     
    B en Jansen betrat das Gebäude des »Hanauer Anzeigers« in der Hammerstraße, hielt dem Pförtner seine Mitarbeiterbescheinigung hin und lief zum Aufzug. Und nachdem die matt glänzende Metallschiebetür sich geöffnet und wieder hinter ihm geschlossen hatte, drückte er den

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