Die Ängstlichen - Roman
Einschnitt in seinem eigenen Leben erfahren, dass er noch Monate später nicht aufhören konnte, daran zu denken, wie das zerdrückte kleine Wesen auf die Welt gekommen war. Denn mit Roberts Ankunft, daran musste Rainer komischerweise denken, während er wortlos mit ansah, wie der Beamte die Vorbereitungen für den offenbar unvermeidlichen Alkoholtest traf, hatte er das beglückende Gefühl gehabt, seine eigene Existenz entscheidend zu verlängern und zu verwirklichen und auf gewisse Weise noch einmal von vorn beginnen zu können. Das Gefühl, eine Art Zeitguthaben geschenkt bekommen zu haben.
Natürlich war Robert von Anfang an ein eigenständiges Wesen gewesen. Trotzdem hatte Rainer den sicheren Eindruck gehabt, einer verkleinerten, hier und da leicht veränderten Ausgabe seiner selbst gegenüberzustehen. (Dabei hatte gerade Robert inzwischen die größten Schwierigkeiten mit ihm als Vater und ließ ihn dies seit einiger Zeit ziemlich ungefiltert spüren.) Und lange hatte es aus seiner Sicht so ausgesehen, als trete Robert, der ihm auch charakterlich so ähnlich schien, in seine Fußstapfen.
»Sie müssen blasen, ohne zwischendurch Luft zu holen!«, sagte der Beamte apodiktisch, nachdem er zu seinem Wagen gegangen war und Rainers Daten per Funk überprüft hatte. Dabei hielt er ihm ein auf den ersten Blick an ein modifiziertes Handy erinnerndes silbernes Kästchen hin, an dessen Frontseite sich ein winziges Display befand.
Rainer schob sich das kurze Plastikmundstück unbeholfen zwischen die Lippen, holte Luft und blies, so fest er konnte,hinein. Dabei dachte er: Wie tief ich gesunken bin. Wie konnte das alles nur geschehen? Und was wird danach kommen, wenn das hier vorbei ist? Wird alles wieder so sein wie früher? Werde ich zu alter Stärke zurückfinden?
»Bingo!«, rief der Beamte, und auf seine schmalen Lippen trat ein knappes triumphierendes Lächeln. Dann nahm er ihm das Gerät ab und drückte es seinem Kollegen, der inzwischen ebenfalls ausgestiegen war, in die Hand.
»Wir müssen Ihr Fahrzeug sicherstellen und Ihren Führerschein einziehen. Außerdem erwartet Sie eine Anklage wegen Führen eines Fahrzeugs in alkoholisiertem Zustand sowie der Übertretung der bestehenden Richtgeschwindigkeit um 79 km/h!«, sagte er, nachdem er kurz das Resultat auf dem Display begutachtet hatte. »Das wird teuer, Herr Taubitz! Geben Sie mir bitte die Autoschlüssel! Außerdem müssen Sie uns aufs Revier begleiten. Wir sind gezwungen, eine Blutprobe zu nehmen, um den genauen Alkoholgehalt in Ihrem Blut festzustellen.«
»Aufs Revier?« Rainer blickte den Beamten zunächst verdutzt an, nahm aber schließlich sein Sakko aus dem Wagen, schloss ab und übergab dem Beamten seine Schlüssel. Darauf stieg er zu den beiden Männern in den Wagen und starrte, während sie fuhren, wortlos aus dem Fenster, hinter dem die Landschaft als grünbraunes Band unscharf vorbeiglitt.
Alles, was er sah, schien ihm plötzlich, wie beim Blick durch ein umgedrehtes Fernglas, unsagbar weit weg. Ulrike. Seine Arbeit, sein altes Leben. Ja sogar die Kinder, die sich ohnedies von ihm entfernt zu haben schienen. Und nachdem er in einem lichtlosen Dienstraum des Fuldaer Polizeihauptgebäudes, auf einem unbequemen Stuhl sitzend, apathisch zugesehen hatte, wie ein Polizeiarzt ihm umständlich Blut abnahm und anschließend die Rede von zwölf Monaten Führerscheinentzug gewesen war,bestellte Rainer, als er mit einem brennenden Stechen in der linken Armbeuge wieder auf der Straße stand, mit letzter Kraft per Handy ein Taxi. Dann sank er in dem Bewusstsein auf die Bordsteinkante, das Kunststück fertiggebracht zu haben, in weniger als einer Stunde seinen Wagen, seinen Führerschein und noch einiges mehr verloren zu haben.
Die Stadtgeräusche schienen mit einem Mal wie durch eine massive, dämpfende Glaswand von ihm abgeschnitten zu sein. Und ihm war, als starre er auf einen laufenden Fernseher, an dem man den Ton abgedreht hatte.
Wie kann das sein?, rätselte er, reckte den Hals und wandte seinen Blick zum Himmel. Fehlt bloß noch, dass es schneit, sagte er sich und stellte sich vor, wie die dicken, stetig fallenden Flocken ihn langsam einzuhüllen begannen, sein Sakko, die Hose und die Lackschuhe bedeckten und zum Verschwinden brachten. Bis er ganz unter einer dicken Schneeschicht verborgen sein würde und nichts mehr daran erinnerte, welche Schmach er erlebt hatte. Doch diesen Wunsch erfüllte ihm der Himmel nicht, und schon in der nächsten Sekunde
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