Die Ängstlichen - Roman
obersten der fünf hell erleuchteten runden Knöpfe, und die Kabine schwebte nach oben.
Tagelang hatte der »Anzeiger« über die Folgen des mit biblischer Wucht über Hessen und insbesondere Hanau hinweggefegten Jahrhundertunwetters berichtet und mit Schlagzeilen wie »Stadt unter«, »Wassermassen verwandeln Hanaus Straßen in reißende Kanäle. Hunderte obdachlos« oder »Unwetter kostete drei Hanauer Bürger das Leben. Eine Stadt trägt Trauer« die ohnehin herrschende Hysterie noch angeheizt. Und auch Tage später zogen die Leitartikler in reißerischen Berichten Parallelen zu den Luftangriffen der Amerikaner imZweiten Weltkrieg, in deren Verlauf die Stadt am Main nahezu dem Erdboden gleichgemacht worden war.
Ben hatte es sich angewöhnt, gelegentlich die Räume der Sportredaktion des »Anzeigers« aufzusuchen, um seine anhaltende Verbundenheit mit dem Blatt, für das er seit inzwischen neun Jahren mehr oder weniger regelmäßig schrieb, zu demonstrieren. Für Freie wie ihn kam es darauf an, einen zwar guten, doch nicht zu freundschaftlichen Kontakt zu den entsprechenden Redakteuren und Ressortleitern zu halten. (Freundschaften mit Auftraggebern, diese Erfahrung hatte Ben mehr als einmal machen müssen, bedeuteten meist über kurz oder lang das Ende der Kooperation.) Von der Stimmungslage zwischen beiden Seiten hing es ab, wie gut man als Freier im Geschäft war – und blieb. War das Klima entspannt (nämlich frei von durchaus möglichen Rivalitäten), garantierte das eine zufriedenstellende Auftragslage; kam es zu Rangeleien um Themen, blieb der Freie auf der Strecke. Und Ben setzte alles daran, seinen Auftraggebern ein verlässlicher und loyaler Partner zu sein. (Dass er insbesondere aber Wilfert, den stets in Anzügen mit gedeckten Farben und weißen Turnschuhen durch die Redaktion eilenden Ressortleiter, für eine Flasche hielt, war eines seiner – zumindest in den Räumen des »Anzeigers« – bestgehüteten Geheimnisse. Wilfert war, was sein sportgeschichtliches Wissen betraf, eher unterbelichtet und seine Artikel – ob über Autorennsport, Segeln oder Boxen – nach Bens Geschmack ziemlich uninspiriert.)
Flüchtig nach links und rechts grüßend, schritt er durch die Räume der Sportredaktion. Vor Heidmanns Zimmer, einem kleinen fensterlosen Raum, blieb er stehen, klopfte an und drückte die spaltweit geöffnete Tür auf.
Heidmann saß, ihm den Rücken zugekehrt, schwer atmend vor seinem Laptop und drosch auf die Tastatur des schutzlosenRechners ein. Für Heidmann hieß schreiben (das hatte er Ben einmal bei einer Tasse Kaffee in der hauseigenen Kantine gebeichtet) Triebabfuhr betreiben, aufgestaute Wut kanalisieren, heruntergeschluckten Büroärger journalistisch sublimieren. Wann immer Ben den dünnen, mit kleinen, stets leicht verklebten braungrauen Augen und einem spärlich behaarten vorspringenden Kinn geschlagenen Exkettenraucher in den letzten Jahren aufgesucht hatte, waren ihm anschließend Aufträge in einer Anzahl sicher gewesen, die ihm für einige Wochen das Überleben garantiert hatten. Ben hing an Heidmann und dessen Gunst wie ein Bypasspatient an seinem Kardiologen, und niemand wusste das so gut wie Ben selbst. Trotzdem hatte es zuletzt ein paarmal hörbar zwischen ihnen geknirscht. So hatte Heidmann im Dezember des Vorjahres einen Rückblick auf das Sportjahr 2002 bei ihm bestellt und sich, nachdem Ben endlich geliefert hatte, über dessen Lückenhaftigkeit beschwert.
Anfangs hatte Ben mit Ausflüchten reagiert, sich gewunden und seine Chronik verteidigt. Bis er schließlich irgendwann eingestanden hatte, schlampig gearbeitet zu haben. Recherche, für einen Sportjournalisten unverzichtbar, gehörte leider nicht zu Bens Stärken. Wenn Ben im Internet surfte, was er häufig tat, besuchte er, nachdem er bei »Spiegel Online« alles Wissenswerte aus der Welt des Sports abgefragt hatte, mit Vorliebe Seiten, auf denen nacktes Fleisch zu begutachten war, allen voran die Startseite der »Bildzeitung«, die ihn, über einen Link, zu »Erotik 1« führte, wo täglich neue unbekleidete Frauen zu sehen waren. Außerdem hasste Ben das Auflisten von Daten und Zahlen. Schrieb er einen Artikel, in dem Fakten gefragt waren, verließ er sich lieber auf seinen sogenannten schreiberischen Instinkt, der ihm sagte, welche Information wichtig war und welche nicht. Auch glaubte er zu wissen, welche WendungDrall und Tempo in eine Story brachte und welche ihr entfachtes Feuer erstickte. Nur das zählte für
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