Die Ängstlichen - Roman
ihn. Hemingway, der als junger Mann für den »Toronto Star« geschrieben hatte und von dem Ben ein paar Geschichten kannte, hatte in seinen Augen diesbezüglich ein untrügliches Gespür besessen. Und so lebten seine eigenen Texte zumeist von den Gefühlen, die ihn beim Verfassen dieses oder jenes Artikels beschlichen. Anders gesagt: Seine Texte waren Stimmungsbilder, und wer zwischen den Zeilen las und Ben ein bisschen besser kannte, wusste, wie es augenblicklich um ihn stand. (Natürlich war er nicht Hemingway, das wusste Ben selbst. Und wer seine Texte aufmerksamer las, sah, dass er auch niemals Hemingway sein würde. Trotzdem besaßen seine Berichte durchaus eine Magie, die den Leser oft schon im ersten Absatz zu packen verstand. Allein diesem Umstand hatte es Ben zu verdanken, dass er auch nach neun Jahren noch auf der Lohnliste des »Anzeigers« stand.)
Bens Auffassung nach musste man die Wirklichkeit, die man beschrieb, hier und da ein bisschen zurechtbiegen und überhöhen, um sie überhaupt erzählbar zu machen. Gute Geschichten, davon war Ben überzeugt, waren größtenteils erfundene Geschichten. Ergebnisse einer furchtlosen Phantasie. Erfindung. Nur über den Umweg der Erfindung erschloss sich einem die Tatsächlichkeit dieser oder jener Story. Mit bloßen Fakten war kein Leser zu gewinnen und der sogenannten Wahrheit nicht beizukommen. Sportjournalisten waren in Bens Augen Autoren, deren Auftrag lautete, die Geschichte eines Sieges oder einer Niederlage zu erzählen und nicht nur nackte Ergebnisse zu referieren. Die Geschichte eines Doppelfehlers offenbarte manchmal mehr über das verborgene Innere eines Tennisspielers als das stumpfsinnige Herunterbeten irgendwelcher biographischer Stationen.
Einmal hatte ihm ein jüngerer Kollege von seinen Schwierigkeitenmit der objektiven Wahrheit erzählt. Daraufhin hatte Ben gelacht und selbstbewusst erwidert, dass niemand etwas wisse. Trotzdem seien alle gehalten, das Gegenteil zu demonstrieren. Natürlich seien alle Sätze über die Wirklichkeit falsche Sätze und die Fotos in den Zeitungen falsche Bilder. Denn das Leben selbst sei etwas völlig anderes und nicht reduzierbar auf einen Satz oder ein Bild. Es sei vielmehr ein Mysterium, dem mit nackten Zahlen nicht beizukommen sei, und die Aufgabe des Schreibers bestehe vielmehr darin, das Mögliche zu beschwören. Ihn interessierten nicht die aktuelle Wahrheit und sogenannte harte Fakten, sondern etwas, was darüber hinausgehe und mögliche spätere Wahrheiten bereits mit einschließe.
Daraufhin hatte ihn der Kollege, ein ehemaliger Hamburger Journalistenschüler, den es in die Niederungen des Lokaljournalismus verschlagen hatte, irritiert angesehen und erwidert, er glaube nicht, dass Journalisten sich als Visionäre betätigen sollten. Journalisten, so der andere weiter, seien im Auftrag einer verborgenen, verdeckten oder vertuschten Wahrheit unterwegs und ihre vordringlichste Aufgabe sei es, diese dem einen oder anderen unbequeme Wahrheit ans Licht zu bringen und, gewissen bestehenden journalistischen Kriterien gehorchend, zu interpretieren.
»Mag sein«, hatte Ben darauf erwidert, aber auch gedacht: Du hast ja keine Ahnung!
»Na, wie steht’s?«, fragte er, an Heidmann gerichtet.
»Schlecht!«, murmelte der, ohne sich umzudrehen.
»Oh, das tut mir leid«, sagte Ben und war (wie es für einen Hypochonder seines Kalibers nicht anders zu erwarten war) sogleich alarmiert.
»Mir auch«, sagte Heidmann nach einer kurzen Pause trocken und wandte sich ihm zu, indem er sich mit der linken Hand am Rand des Schreibtischs kurz abstieß und mit seinemgut gefederten Sessel eine geschickte 180-Grad-Drehung vollführte. Auf seinem schmalen, zerknitterten Gesicht lag ein Ausdruck unbestimmter Sorge.
»Na, nun setzen Sie sich schon«, sagte Heidmann und wies auf den Stuhl an der Wand, an der ein gerahmtes, von sämtlichen Spielern signiertes Mannschaftsfoto der Weltmeister-Elf von 1974 hing, Maier, Beckenbauer, Vogts, Grabowski … (trotz ihrer jahrelangen Bekanntschaft waren Heidmann und er eisern beim »Sie« geblieben).
Wie oft hatte Ben auf diesem Stuhl gesessen und in Heidmanns Gesicht geblickt, das immer gleiche reglose Gesicht eines Mannes, der scheinbar keine Träume hatte, nie welche gehabt zu haben schien. Heidmann war Heidmann, Sportredakteur, zweiundfünfzig, und geschieden. Ein Mann ohne hervorstechende Eigenschaften und, wie seine Schweigsamkeit diesbezüglich suggerierte, offenbar ohne nennenswerte
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