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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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der Windschutzscheibe, setzte sie auf und kam entschlossen auf ihn zu. Kleinlaut ließ Rainer den Kopf zwischen die Schultern sinken.
    »Ja, bitte?«, sagte er mit gespielter Ahnungslosigkeit durch die geschlossene Scheibe hindurch, betätigte aber sogleich, weil er merkte, dass der andere ihn überhaupt nicht verstehen konnte, den Druckknopf des elektrischen Fensterhebers. Die Scheibe glitt mit einem Surren in die Innenverkleidung der Tür, und das eben noch leicht verschwommene Gesicht des Beamten bekam klare Konturen.
    »Ja? Irgendwas nicht in Ordnung mit meinem Wagen?«, sagte Rainer und war dabei, die Tür zu öffnen.
    »Hände aufs Steuer!«, erwiderte der Polizist im zackigen Befehlston und trat einen Schritt zurück. »Die Hände bleiben,wo sie sind, verstanden! Ich sage Ihnen, wenn Sie aussteigen dürfen!«
    Der Beamte war ein vielleicht fünfundvierzigjähriger, leicht gebeugter Mann mit dunkelbraunem Schnauzer und hängenden grauen Wangen. Alles in seinem Gesicht wirkte abgeschlafft. Die Augen allerdings waren zu Schlitzen verengt, und seine rechte Hand ruhte nun auf dem Griff der im Holster steckenden Pistole, als erwarte er, dass Rainer jeden Moment das Feuer eröffnete.
    »Aber ich wollte doch nur …«, stotterte der und fuchtelte mit den Händen herum.
    »Haben Sie Alkohol konsumiert?«, sagte der Beamte. »Öffnen Sie bitte das Handschuhfach, indem Sie mit der linken Hand über die rechte greifen! Und zwar ganz langsam!«
    »Alkohol? Zu dieser Tageszeit? Nein, wie kommen Sie denn darauf? Ich bin Geschäftsmann«, antwortete Rainer und befolgte die Anweisung des anderen. Linkisch beugte er sich über den Schaltknüppel. (Er hasste Automatikgetriebe. Automatikgetriebe waren in seinen Augen etwas für Einbeinige und Weicheier, die Autofahren mit Fahrstuhlfahren verwechselten und beim Kochen eine Schürze trugen, auf der »Ich bin dein« stand.)
    »Die Fragen stelle ich!«, sagte der Beamte abermals ungewöhnlich barsch und streckte, wobei er an Rainer vorbei einen prüfenden Blick auf das offene Fach warf, seine rechte Hand zum Fenster herein. »Ihre Papiere! Fahrzeugschein, Führerschein! Und bleiben Sie gefälligst ruhig sitzen!«
    »Ja, sicher, Moment«, sagte Rainer eingeschüchtert, klappte die Armlehne, welche die Mittelkonsole verschloss, hoch, zog das Plastiketui hervor und hielt es dem anderen hin.
    »Sie sind erheblich zu schnell gefahren, wissen Sie das?«, herrschte ihn der Beamte an, nahm die Dokumente aus der Hülle und begann sie eingehend zu studieren. Rainer spürte,wie ihm im Nacken, an den Schläfen und am Bauch der Schweiß ausbrach.
    »So, bin ich das?«, antwortete er scheinheilig. »Ist mir gar nicht aufgefallen, ganz ehrlich!«
    »Statt der erlaubten Richtgeschwindigkeit von 130 sind sie 209 gefahren. Steigen Sie aus!«
    »Wirklich? Also ich, äh«, stammelte Rainer.
    »Aussteigen!«, blaffte der Beamte. »Aber so, dass ich Ihre Hände sehen kann. Öffnen Sie mit der rechten Hand die Tür, und dann ganz langsam rauskommen!«
    Natürlich bin ich viel zu schnell gefahren, sagte sich Rainer. Aber muss man mich deshalb gleich wie einen Verbrecher behandeln? Sind Raser automatisch entrechtet und jeden Anspruchs auf Gleichbehandlung mit den Nichtrasern enthoben?
    Aus irgendeinem Grund musste er an seinen ältesten Sohn Robert denken, und er war froh, dass der ihn nicht so sehen konnte. Gedemütigt von einem kleinen Streifenpolizisten, der seinen Auftritt sichtlich genoss.
    Zu Robert hatte Rainer immer ein besonderes Verhältnis gehabt. Robert war ihm von allen dreien am ähnlichsten. An Carl und Clara dachte er nur selten. Hatte er jemals mit einem von ihnen, als sie klein waren, eine Schneeballschlacht gemacht? Oder mit ihnen im Park geschaukelt oder Eis gegessen oder Enten gefüttert? Er wusste es wirklich nicht mehr. Die Jahre waren so schnell dahingegangen, dass jede Erinnerung an die erste Zeit mit den beiden bereits verblasst war. Die mit Robert dagegen war ihm, obwohl sie viel weiter zurücklag, noch ganz gegenwärtig, als seien seither gerade mal ein paar Wochen oder Monate vergangen.
    Wenn Rainer zurückblickte (und er blickte gern auf diese Phase seines Lebens zurück), sah er sich als treusorgenden jungen Vater, der nächtelang mit dem schreienden Kleinenauf dem Arm in dem engen Flur ihrer ersten Wohnung, einer 70-Quadratmeter-Maisonettewohnung, auf und ab ging.
    Roberts Geburt hatte er damals als etwas so Großes und Außergewöhnliches und als einen solch elementaren

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