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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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drang das Heulen eines vorbeidonnernden LKWs, dessen beißender Gestank ihm sogleich in der Nase brannte, wieder mit unverminderter Lautstärke an sein Ohr.
    Was für ein Bild ich wohl abgebe?, dachte Rainer, als er zwanzig Minuten später aus dem Taxi stieg und verstohlen zu den Fenstern im ersten Stock seines Hauses hinaufblinzelte. Dort oben befanden sich das Schlafzimmer und auch Ulrikes Zimmer, in dem sie dann und wann, meist nach größeren Meinungsverschiedenheiten, allein übernachtete. Ein armseliges, jämmerliches Bild gebe ich ab!, dachte er. Das Bild eines Verlierers, des Status eines Finanzchefs eines weltweit operierenden Reifenkonzerns unwürdig.
    Rainer schloss die Haustür auf und betrat den dunklen Flur.Sofort stieg ihm der vertraute würzige Geruch der alten Holzdielen in die Nase. Von Ulrike dagegen keine Spur. Alles wirkte, wie wenn sie die Räume vor längerer Zeit verlassen hatte.
    Rainer spürte, wie Wut in ihm aufschäumte. Er hatte sich demütigen lassen müssen von zwei Dahergelaufenen und seine Fahrerlaubnis verloren, und seine Frau trieb sich derweil in der Weltgeschichte herum.
    »Na und wenn schon!«, rief er zornig in die Stille hinein, die Vorstellung kommentierend, womöglich ein Jahr oder länger ohne Führerschein zu sein. Und an Ulrikes Adresse gerichtet, rief er: »Von mir aus bleib, wo der Pfeffer wächst! Blöde Kuh!«
    Sein Kampfgeist war wieder erwacht, o ja, und er wollte fortan nur noch nach vorn schauen, dorthin, wo alles noch heil und rein war und noch nicht vergiftet von Missgunst und Neid. Frei vom Keim des Verderbens. Denn Zurückblicken hieß, Kränkungen wachzurufen. Schmähungen. Niederlagen. Er redete sich all seinen Ärger von der Seele, monologisierte weitschweifig über dies und das und schrieb mit kräftig rudernden Armen das Drehbuch seines Comebacks in die Luft. Bis er irgendwann neben der Garderobe erschöpft in den Flursessel sank, die Augen schloss und auf der Stelle einschlief.
     
    A ls Kind hatte sie geglaubt, man könne Steinen seine innersten Geheimnisse anvertrauen und darin deponieren und deren manchmal drückende Last oder Bedeutung eine Zeitlang auf die leblose Materie übertragen. Oder dass man seine innersten Wünsche auf ein Blatt Papier schreiben und dieses Blatt Papier anzünden und verbrennen müsse, damit die Wünsche in Erfüllung gingen (so jedenfalls machten es die Chinesen). Johanna hatte so vieles geglaubt, damals. Und sichso vieles für ihr späteres Leben gewünscht. Und nun saß sie da und musste feststellen, dass sie befürchtete, ihr Wunsch nach einer neuen Umgebung könne sich unter gewissen Umständen tatsächlich erfüllen.
    Johanna lief ins Wohnzimmer, ließ sich in Janeks Ohrensessel fallen und angelte nach der vor ihr auf dem Tisch liegenden Fernbedienung (dabei verachtete sie Leute, die am helllichten Tag vor dem Fernseher saßen, statt sinnvolleren Dingen nachzugehen). Wahllos drückte sie einen der Knöpfe und erwischte den mit der Zahl 2. Es liefen Nachrichten (sie hatte aber auch ein Pech). Die eben noch schimmernde Schwärze der Mattscheibe wich sekundenschnell den farbigen Umrissen einer Handvoll Menschen, die, wie die Sprecherstimme aus dem Off erläuterte, nach vierzehn Tagen Gefangenschaft in der Sahara aus den Händen ihrer Entführer freigekommen waren. Wie es hieß, habe die Zahlung der geforderten Lösegelder durch die Bundesregierung zur Freilassung der Touristen geführt.
    Johanna blickte in müde, vom Hoffen ausgelaugte Gesichter, sah Artgenossen, die, das konnte jeder sehen, der Augen im Kopf hatte, trotz ihrer Freilassung nie mehr wirklich in ihr altes Leben zurückfinden würden. Die erlittenen Schrecken hatten sie für immer von diesem Teil ihres Lebens abgeschnitten, daran konnte kein Zweifel bestehen. Wer einmal einen Krieg miterlebt hatte, dachte Johanna, der weiß, was diese Menschen durchgemacht haben müssen.
    Die Tränensäcke unter ihren Augen bebten sekundenlang, als schieße jeden Augenblick ein Schwall Flüssigkeit unkontrollierbar daraus hervor. Im letzten Moment aber gewann Johanna ihre Fassung wieder.
    Neuerdings überkam sie manchmal wie aus heiterem Himmel das Verlangen zu weinen. Doch weshalb war ihr gerade jetzt danach zumute? Was gingen sie diese wildfremden Menschenan? Hatte sie nicht bereits genug damit zu tun, sich ihren eigenen Kindern zuzuwenden? Dennoch war sie unfähig, ihren Blick von der Mattscheibe zu lösen. Die befreiten Geiseln schienen vom hellen Licht des Tages geblendet

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