Die Ängstlichen - Roman
verborgene Wandgemälde im Schein der Flamme schlagartig zu neuem Leben erweckten.
Konrad machte einen Schritt nach vorn, schreckte aber vor dem stechenden Schmerz in seinem Bein, der wie ein Stromstoß seinen ganzen Körper durchfloss, jäh zurück. Trotzdem hatte er, Schmerz hin oder her, nur noch eines im Sinn: Es musste ihm gelingen, von den beiden mit nach Frankfurt genommen zu werden! Und während Konrad, gepeinigt vom Schmerz und seiner wachsenden süßen Lust, entschlossen war, auf jene bereits bedrohlich schlingernde Hanauer Drehbühnezurückzukehren, auf der eine Handvoll Menschen im Begriff war, ihren Halt zu verlieren, machte Rainer sich, fünfzig Autominuten entfernt und von Furcht und Misstrauen gelenkt, daran, durch den Garten seines Fuldaer Hauses in eine Nacht ohne Sterne zu entschwinden.
Statt doch noch ins Büro zu gehen, nachdem sein Sohn Carl ihn am Mittag ungewollt an seine Pflichten als Finanzvorstand eines bedeutenden Unternehmens erinnert hatte, hatte Rainer sich bei seiner Sekretärin, Frau Lieberwirth, für den Rest des Tages abgemeldet, war ins Schlafzimmer hinaufgegangen, hatte sich bis auf die Unterhose und das Unterhemd ausgezogen, die Rollläden heruntergelassen, sich ins Bett gelegt und krampfhaft die Augen zugepresst.
Als er Stunden später und mit schwerem Kopf in vollkommener Dunkelheit erwachte (er hatte fast vier Stunden geschlafen, was ihn aber angesichts dessen, was er im Moment durchmachte, keineswegs überraschte), hämmerte der Puls so rasend und dumpf in seinen Schläfen wie der Klöppel einer Schelle, der, von dem minutenlang stoisch auf den Knopf drückenden Zeigefinger eines Sadisten dazu verurteilt, mit schwindelerregend hoher Frequenz auf die Klingelschale drosch.
In seiner verengten Brust schien eine neunköpfige Hydra zu wüten, die ihn, scheinbar in alle Himmelsrichtungen gleichzeitig beißend, dazu trieb, mal seine Bauchmuskulatur anzuspannen, die Knie vor die Brust zu ziehen oder mit zusammengebissenen Zähnen seine Schulterblätter so jäh und heftig zusammenzuschieben wie tektonische Platten, die ungebremst gegeneinanderstießen.
Die Erklärung für Rainers kritischen Zustand war allerdings ganz einfach: In der Hektik hatte er bereits zum dritten Mal hintereinander versäumt, seine Betablocker einzunehmen, Propra-ratiopharm 10, so dass seine Herzklappen, die förmlichnach ihrer üblichen Dosis Propranololhydrochlorid lechzten, inzwischen verrückt spielten und ihn in die Nähe des von allen Betablocker-Stimulierten gefürchteten Rebound-Effekts trieben. (Ein jähes Ansteigen der Herzfrequenz, als lege man aus dem Stand einen Hundert-Meter-Sprint hin.)
Seit mehr als sieben Jahren schluckte er das Zeug inzwischen, 30 Milligramm pro Tag, chemische Schalldämpfer für die immer öfter sirrenden Schlägel in seinen Schläfen, auf die Ration dreier erbsengroßer schneeweißer Pillen verteilt. (Sein Hausarzt Dr. Pauli hatte ihm die Blocker in einer Phase gesteigerter beruflicher Anspannung verschrieben, und Rainer hatte ihre dämpfende Kraft schnell schätzen gelernt – selbst nach dem Orgasmus pendelte sich sein Herzschlag in Sekundenschnelle auf seiner untertourigen Normalfrequenz ein. Rainer vertraute den Dingern, von den störend schweren Beinen, in denen sein Blut in Folge geringerer Fließgeschwindigkeit manchmal regelrecht zu stocken schien, einmal abgesehen.)
Sein Herz schlug inzwischen mit einer solch niedrigen Geschwindigkeit, dass er, wenn er nachts wach lag und, mit der Wange gegen das Kopfkissen gedrückt, auf seinen Puls horchte, manchmal selber erschrak, wie groß und unheimlich still die Pausen zwischen den einzelnen Schlägen waren. Und während Konrad es tatsächlich gelang, das Pärchen an der Raststätte Lorch dazu zu bringen, ihn in seinem Wagen mit nach Frankfurt zu nehmen (er hatte von einer Beinverletzung gesprochen, etwas von Unfall gemurmelt und sie mit der Bitte, ihn mitzunehmen, damit er dort einen befreundeten Arzt aufsuchen könne, im Handumdrehen überzeugt), lief Rainer im Schutz der Dunkelheit den Petersberg hinunter zu dem Münzfernsprecher an der Ecke (in der Hektik hatte er sein Handy nach dem Taxiruf auf dem Bordstein liegen lassen),nahm den Hörer ab, warf zwei Fünfzig-Cent-Münzen in den Schlitz und wählte Ritas Nummer.
»Ich muss dich sehen!«, zischte er in die Muschel, als Ritas Stimme erklang und sie ihren Nachnamen nannte. Dabei blickte er sich immerzu ängstlich um. »Und zwar sofort, hörst du!?«
»Wer spricht
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