Die Ängstlichen - Roman
Das mit lasergeschnittenem Kiel, Spanten und Decks ausgestattete, halbfertig vor ihm auf dem Tisch stehende 98 Zentimeter lange Modell war neben all den mit Nylonfäden an der Decke befestigten Stukas und Lancaster-Bombern sein ganzer Stolz.
Als er die Positionslampen, die Anker und die Galionsfigur anbrachte, begann sein Herz vor Aufregung schneller zu schlagen. Dass er allerdings satte 329 Euro für den Bausatz des Vollrumpfmodels hingeblättert hatte, hatte er Britta, die seine Bastelei ohnehin belächelte, tunlichst verschwiegen. Sollte sie doch denken, er vertreibe sich die Zeit mit kindischen Spielereien, in die er ein paar Euro investierte. Denn er machte gar nicht erstden Versuch, sie in die tieferen Geheimnisse seiner Leidenschaft und in den Ernst dieser Sache einzuweihen. Dabei überstieg das, was in ihm ablief, wenn er die vielen Kleinteile, einer strengen Bauanleitung gehorchend, zu einem imposanten größeren Ganzen zusammensetzte, sogar die Gefühle, die ihn noch dann und wann durchrollten, wenn er sich des Nachts an Britta abmühte. Denn während er den Orgasmus als kurze heftige Irritation empfand, die ihn aus seinem geliebten Gleichmaß riss, gab ihm das akribische, oft Tage währende Zusammenfügen der Bauteile das lang anhaltende Gefühl, ganz und gar bei sich zu sein. Sollte Britta ihn doch für ein Weichei halten! Ihm war das egal, solange sie ihn hier unten in Ruhe ließ.
Oben starrte Ulrike gelangweilt auf den Bildschirm. In die in ihrem Glas knackenden Eiswürfel fraß die mit 36,7 Grad gleich bleibende, ins Innere abstrahlende Körpertemperatur der Finger ihrer rechten Hand, mit denen sie das matt geriffelte Longdrinkglas kurz umfasste, abermals flüchtig daran nippte und leicht angeekelt wieder auf dem Beistelltisch abstellte, kleine unsichtbare Löcher, und Ulrike dachte, hin und her gerissen zwischen Entsetzen, sanftem Verlangen und Unsicherheit, an Rainer.
Einem jähen sentimentalen Impuls folgend, rief sie sich ihre Kinder ins Gedächtnis und spürte, wie sehr sie ihr plötzlich fehlten. Sie schielte zu Britta hinüber, die in ihrer ganzen mittelmäßigen Selbstzufriedenheit dalag und aus deren Mimik die Beschränktheit eines Menschen sprach, der sich nicht vorstellen konnte, was es hieß, seine moralischen Werte unter Umständen bis zum Letzten verteidigen zu müssen. Nein, sie hatte nicht die leiseste Ahnung, welcher Wirbelsturm gerade jetzt, in dieser Sekunde, in ihr tobte, während sie diesen läppischen Fernsehmist aufsaugte. Britta war eine Insel, auf die sie sich in letzter Sekunde gerettet hatte, gewiss. Doch genau betrachtetherrschte auf dieser Insel nicht ein Fünkchen Leben. Wohin das Auge reichte, erfasste es Eintönigkeit und Ödnis.
Ulrike spielte mit dem Gedanken, Carl in Köln anzurufen. Von allen drei Kindern war Carl ihr stets am nächsten gewesen; Carl war wie sie: gutmütig, solidarisch und äußerst sensibel. Doch was sollte sie ihm sagen? Dass sie, von ihrer Eifersucht dazu getrieben, den vielleicht größten Fehler ihres Lebens begangen hatte, indem sie so eisern wie nie zuvor auf Satisfaction bestand, und, um diese zu erlangen, all ihre strategischen Register gezogen hatte, mit denen Rainer nun zu kämpfen hatte wie mit Atemnot. Oder sollte sie ihm sagen, dass sein Vater ein windiger Betrüger und unkontrollierbar in der Gegend herumfickender Scheißkerl war, der sie auf das tiefste gedemütigt und sie damit indirekt dazu herausgefordert hatte, all das zu riskieren, was auch ihm hoch und heilig war, die Familie, dieses heiligste aller heiligen Gebilde, aus dem sie ihre täglichen Kräfte bezog?
Ulrike spürte, wie jedes weitere Nachdenken in diese Richtung den Schmerz und das Rumoren in ihrem Innern nur verstärkte, und so angelte sie leicht zitternd nach dem beschlagenen Glas, hielt es in der Hand, nippte oberflächlich daran und betrachtete ihre Fingerabdrücke, nachdem sie es wieder abgestellt hatte.
Sie würgte an der ganzen Sache wie eine Katze, die verdorbenen Fisch gefressen hatte. Am besten, dachte sie, wird es sein, wenn ich mich hinlege und versuche, zu schlafen und das Ganze erst einmal beiseitezuschieben. Doch als sie eine Viertelstunde später in einem geliehenen Nachthemd von Britta (einer Art geblümter Zwangsjacke, durch deren empörend engen Halsausschnitt sie nur mit größter Anstrengung ihren hochroten Kopf zu zwängen vermochte) im halbdunklen Gästezimmer der Potthoffs im Bett lag, bis zum Kinn bedecktvom knisternden, nach Weichspüler
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