Die Ängstlichen - Roman
später. Auch wenn es nichts ändern wird. Denn auch später wird es immer schon zu spät sein. Die Dinge lassen sich nicht umkehren! Und als sie eine Stunde danach in ihrer Wohnung waren, Ben mit an den Körper angezogenen Armen und Beinen auf ihrem Bett lag, war es genau das Gleiche. In seinem Innern pochte der Schmerz, und er stöhnte.
Iris hatte sich an ihn geschmiegt, hielt ihn mit ihren Armen umfangen. Auf ihrem Haar, in dem das letzte, schwach zum Fenster hereindringende Tageslicht spielte, lag ein unwirklicher silbriger Schimmer.
»Nein, bleib liegen«, sagte sie, »ich hol dir eine Tablette«, als sie wieder, wie schon zuvor auf dem Parkplatz, spürte, dass es ihn wegzog. Ein Zucken und Vibrieren der Nervenenden in seinem Fleisch, kurz und unkontrollierbar.
»Die müssten hier sein, auf dem Nachttisch«, murmelte er schwach, ohne die Augen zu öffnen. (Erst unlängst hatte er eine ihrer Schlaftabletten genommen und vor dem Einschlafen immerzu auf die im Schein der Nachttischlampe leuchtende grün-weiße Schachtel gestarrt. Bis ihre Farben verblasst waren und ihm schließlich irgendwann die Augen zufielen.)
Iris erhob sich. Er hörte ein Rascheln, gefolgt vom trockenen Schmatzen ihrer nackten Fußsohlen auf den Holzdielen, registrierte, wie sie in die Küche ging, ein Glas aus demSchrank nahm, es mit Leitungswasser volllaufen ließ und ins Schlafzimmer zurückkehrte.
»Hier«, sagte sie, »nimm die, damit du erst mal ruhiger wirst!«
»Du bist so lieb zu mir!«, sagte er, empfing die Tablette aus ihrer Hand, schob sie in den Mund und trank einen Schluck.
»Ich weiß einfach, was du gerade fühlst«, sagte sie und stellte das Glas auf dem Nachttisch ab. Dann kniete sie neben dem Bett vor ihm nieder und legte ihren Kopf leicht schräg, gegen die Matratze gedrückt, und sah ihn an.
Bereits bei ihrer zweiten Begegnung hatte sie ihm vom Krebstod ihres Vaters erzählt. Sie hatte dabei auf Details verzichtet und mehr über sich und ihre Gefühle gesprochen als über das Sterben des Vaters. Doch was sie erzählte, hatte genügt, um Ben das beruhigende Gefühl zu geben, sich nicht verstellen zu müssen und in ihr eine Verbündete gefunden zu haben im Kampf gegen seine Dämonen.
Iris hatte ihn damals spontan beeindruckt (auch wenn er ebenso sicher spürte, dass sie gewiss mehr als nur ein paar Jahre Altersunterschied trennten), denn es war schwer, nicht von ihr angetan zu sein. Sie war auf eine vollkommen natürliche Art attraktiv: platinblond, schmale Hüften, volle, feste Brüste, schöne feingliedrige Hände und Augen, deren Blick nicht vor den natürlichen Grenzen der Dinge haltzumachen schien, sondern tiefer ging, dorthin, wo die Seele eines anderen begann und es interessant wurde.
»Dir scheint aber auch wirklich gar nichts zu entgehen, wie machst du das bloß?«, hatte Ben einmal zu ihr gesagt und hinzugefügt, dass ihn ihre direkte Art manchmal sogar ein bisschen ängstige, weil er es brauche, sich zu verstecken und in sich zurückzuziehen. »Es gibt Tage, da fürchte ich jeden Blick eines anderen und glaube nichts mehr«, hatte er gesagt, »amwenigsten das, was ich sehe und berühren kann, weil mir alles plötzlich verlogen und arrangiert erscheint, bedrohlich. Und die Geschichten, die passieren, kommen mir am unwirklichsten vor, geradezu lächerlich. Doch dann sage ich mir, das ist die Wirklichkeit: Flugzeuge, Autos, dreckige Schuhe, stinkende Abfallkörbe und obdachlos gewordene Menschen, die in offenen Toreinfahrten liegen.«
Daraufhin hatte sie sich eine Strähne mit der Hand aus der Stirn gestrichen, ihn unverwandt angesehen und geantwortet: »Da geht es dir wie mir. Vielleicht sind wir ja deshalb zusammen, damit wir unsere Zweifel teilen.«
Das hatte ihn damals beeindruckt, doch die Klarheit ihrer Worte hatte ihn auch erschreckt.
Ben hatte ihr bei ihrer ersten Begegnung in der Bank verschwörerisch zugezwinkert, als sie ihm über den Schaltertisch das Formular zur Unterzeichnung hinschob, hatte sich ausprobiert an ihr und auf einen spontanen Reflex von ihr gewartet. Doch statt irritiert zu sein, hatte sie ihn offen und ganz ohne Scheu angesehen. So, als habe sie ihn längst durchschaut (und das hatte sie wohl auch).
Dann waren sie das erste Mal außerhalb der Bank aufeinandergetroffen, er hatte sie zum Mittagessen abgeholt. Sie hatten gelacht und geredet wie zwei, die sich nach einer langen Zeit der Trennung wiedersahen und dabei fast das Essen vergaßen. Und als sie wenig später das erste
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