Die Ängstlichen - Roman
Mal nebeneinanderlagen (wie zwei wildfremde Kinder, dachte Ben, die aus Angst vor der Stille und Einsamkeit der Nacht zueinander geflohen waren), hatte Ben das beglückende Gefühl gehabt, am Ende eines langen Weges angekommen zu sein.
Als sie am nächsten Morgen erwacht war (der Wecker hatte sie Punkt sieben aus einem leichten Schlaf geholt), hatte sie Ben in ihrer Küche sitzend gefunden. Er hockte am Tisch, vorsich eine Kaffeetasse, die er mit beiden Händen umfasst hielt, und starrte vor sich hin.
Kurz zuvor war er hinüber zu ihr ins Schlafzimmer gegangen und hatte sie lange im Halbdunkel angesehen. Das verdrehte Laken war um den Bauch und um das linke, leicht nach vorn gestreckte Bein geschlungen gewesen. Sie hatte sich schlafend daran festgehalten wie eine Ertrinkende. Das Laken schien sie in die Tiefe zu reißen, sie hatte es nicht losgelassen. Der schutzlose Anblick der Schlafenden hatte ihn gerührt, so als kommuniziere sie mit geschlossenen Augen mit ihm.
»Schon auf?«, sagte sie und rieb sich die Augen und gähnte.
»Ja, schon länger. Und du? Gut geschlafen?«, sagte Ben und wirkte abwesend.
»Wie man’s nimmt«, antwortete sie. »Was hast du die ganze Zeit gemacht?«
»Gebetet!«, antwortete Ben, ohne sie anzusehen.
W enn Konrad an sein Leben dachte, an seine Mutter und seine beiden älteren Geschwister Ulrike und Helmut, war es, als blicke er auf ein Familienfoto, aus dem man ihn herausgeschnitten hatte. Er war immer eine Randfigur gewesen, ein Fremdling, dessen Beweggründe, dies oder das zu tun oder zu lassen, anderen befremdend und unlogisch erschienen. Doch nun strebte er ins Zentrum, dorthin, wo das Leben war.
Von nun an, das hatte er sich unmittelbar vor dem Sprung aus dem Fenster noch einmal geschworen, würde er dazugehören, ob sie es wollten oder nicht. Und sein Wille hatte ihm offensichtlich Flügel verliehen und ihn schweben lassen, aus vier Metern Höhe, ohne jede Angst. Er dachte: Viel zu lange habe ich akzeptiert, dass es angeblich keinen Platz beiden anderen für mich gibt. Doch nun konnte er an nichts anderes mehr denken, als dazuzugehören, endlich. Er würde nicht länger eine Randfigur sein.
Die ersten Jahre seines Lebens hatte er als schön und sorglos in Erinnerung. Deutschland war im Begriff gewesen, sich wieder aufzurichten zu alter Größe. Und statt leerer Regale, wie noch kurz nach dem Krieg, leuchtete einem hinter den blitzenden Schaufenstern der Geschäfte ein neu geschaffener und nicht für möglich gehaltener Wohlstand entgegen. Das Leben auf der Hohen Tanne hatte etwas von dem weltabgewandten Dasein auf einem immergrünen Planeten gehabt, und die Nachmittage in den nahen Wäldern waren ihm manchmal unendlich erschienen. Doch alles, was nach seinem sechzehnten Lebensjahr geschehen war (jenem Jahr, in dem seine Welt einen Sprung bekam und alle vorangegangene Leichtigkeit einer bleiernen Schwere wich), war an ihm vorbeigezogen wie ein schlingernd dahinrasender Schnellzug mit eingeschlagenen Fenstern, der nach einigen Hundert Metern jäh aus den Schienen sprang, ins Gleisbett kippte und in einem nahen Waldstück geräuschvoll an einer dicht stehenden Baumgruppe zerschellte. Manchmal hasste er Ben dafür, dass der seinen Platz in der Familie eingenommen hatte, ein Kuckuck im fremden Nest, und die Rolle des von allen gehätschelten Nachzüglers mimte, während er selbst, abgeschnitten von ihnen und unter Verschluss gehalten wie ein Verbrecher, nicht mehr dazugehörte. Und so waren seine Ausbrüche nie etwas anderes gewesen als der Versuch, heimzukehren und wieder dazuzugehören.
Konrad spähte mit schmerzverzerrtem Gesicht hinüber zu den Zapfsäulen, wo ein dunkler Wagen stand, aus dessen offenen Seitenfenstern Musik schallte, das Stampfen und Wummern mächtiger Bässe und das Jaulen malträtierter Elektrogitarren.Daneben stand ein junger Mann in Jeans, rauchte eine Zigarette und wippte im Takt der Bässe mit dem Bein.
Im milchigen Schein der Strahler der Überdachung wirkte sein schmales, bartschattiges Gesicht grünstichig, und die fluoreszierenden hellen Ränder der breiten Gummisohlen seiner Turnschuhe leuchteten sekundenlang auf, wenn ein herannahendes Fahrzeug sie mit seinen über den Boden tastenden Scheinwerfern erfasste. Über dem Bund seiner verwaschenen, an den Knien zerrissenen Hose schimmerte sein fahler, stark behaarter Bauch.
Konrad besah sich den jungen Mann ganz genau, dann humpelte er zu ihm hinüber, als das Wummern der Bässe jäh erstarb
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