Die Ängstlichen - Roman
duftenden Bettzeug, und es sich bequem zu machen versuchte, überkam sie von neuem die schreckliche Gewissheit, diesmal einen Schritt zu weit gegangen zu sein.
Missmutig presste sie ihr Gesicht in das widerspenstige Kopfkissen und ballte unbewusst die Fäuste. Ein paar Mal knuffte sie, um es anschmiegsamer zu machen, mit der rechten Faust in das pralle, noch immer wie aufgepumpt wirkende Kissen.
Erkenne dich selbst! Dieser Satz verfolgte sie inzwischen wie ein schlechter Stern. Und hier, an der holprigen Schwelle zum Schlaf, wo sich die letzten erschreckenden Eindrücke wie Stacheldrahtzäune erhoben, an denen sie sich immer neu schmerzhaft ritzte, begann sie auf einmal die ganze fürchterliche Tragweite dieser drei Worte zu realisieren.
Sie fing an zu weinen.
A ufgeregt lief Johanna in die Küche, machte Licht, öffnete die mittlere obere Tür des Schranks und fischte hinter der grauen verschrammten Salatschüssel aus Leichtaluminium ihr abgegriffenes braunes Haushaltsbuch hervor (in dem sie von 1956 an sämtliche Ausgaben Punkt für Punkt aufgelistet hatte). Dann löste sie den porösen, einst weinroten und jahrelang ziemlich ausgeleierten, inzwischen rosafarbenen Einweckgummi und zog zwischen den diversen vergilbten Rezepten und Backanleitungen (Ausrisse aus der »Bäckerblume« und dem »Konsum«-Ratgeber »Kochen & Backen«) ihre beiden Sparbücher (ihr eigenes und das ihres Mannes) hervor, schlug sie an der entscheidenden Stelle auf und addierte mit auf die Nasenspitze heruntergerutschter Brille die darin festgeschriebenen Beträge. Zusammengenommen belief sich ihr aktuellesRestguthaben, nachdem sie, leichtgläubig, wie sie gewesen war, 45 000 Euro auf Ulrikes Fuldaer Konto transferiert hatte, auf nicht mehr ganz 6000 Euro. (Aber sie bekam ja die Monatsrente ihres Mannes weiter, mit der sie die Miete des Zimmers im Heim bestreiten konnte.)
Vor dem Fernseher sitzend, hatte sie plötzlich die Sorge gepackt, mit Blick auf ihren anstehenden Umzug in das Herz-Jesu-Stift finanziell nicht mehr manövrierbar zu sein, nachdem Janek verschwunden war.
Bis zuletzt hatte Johanna fest daran geglaubt, vor Janek zu sterben und ihn zurücklassen zu müssen. Denn äußerlich betrachtet, hatte er, abgesehen von seinen gelegentlichen Migräneanfällen (Spätfolgen einer in seiner Jugend nicht auskurierten Gehirnerschütterung, die er sich beim Aufspringen auf einen in einen Tunnel einfahrenden Nahverkehrszug in Sosnowiec in Polen zugezogen hatte), seinen dann und wann auftretenden Herzrhythmusstörungen (die er mit schnell wirkenden Antiarythmika bekämpfte) und seiner wiederkehrenden Übellaunigkeit, wenn er mal wieder auf das falsche Pferd gesetzt oder zu hoch gepokert hatte, stets einen durchaus ansprechenden körperlichen Eindruck auf sie gemacht. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, dass es einmal so mit ihm enden würde, diesem starken, unbeugsamen Charakter, der, wenn es darauf ankam und er von einer Sache überzeugt war, unbelehrbar mit dem Kopf durch die Wand ging.
Selbstmord. Was für ein grässliches Wort! Und was für eine noch viel grässlichere Vorstellung, dass Janek sich mit einem Messer eigenhändig verletzt und anschließend ertränkt haben sollte! Doch abgesehen von Ben, war sie offenbar die Einzige, die unter Janeks Ableben litt.
Sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wie die Lücke, die er in ihren Alltag gerissen hatte, rein praktisch gesehen, jemalswieder geschlossen werden sollte. Wer sollte ihr zukünftig helfen, wenn der Wasserhahn in der Küche tropfte, die Klospülung hakte oder eine der von ihm eigenhändig im Wohnzimmer angebrachten Styropor-Deckenplatten (durchfallfarbenes Stuck-Imitat der Marke Dusar) herunter- und ihr auf den Kopf fiel? Und wie sollte sie es zukünftig bewerkstelligen, sich ihre monatlichen Lebensmittelvorräte, die sie bislang gemeinsam beim »Massa«-Markt in Dörnigheim eingekauft und mit seinem Wagen nach Hause geschafft hatten, zu besorgen? Etwa indem sie Helmut um Hilfe bat? Nein, eher würde sie verhungern und sich die Zunge abbeißen, als Helmut um einen solchen Gefallen zu bitten. Wie sie es auch drehte und wendete: Janeks Verschwinden führte zu tiefen Einschnitten in ihrem Leben, in ihrer Haushaltsführung. Von ihrem Herzen ganz zu schweigen. Sein Selbstmord hatte sie zum zweiten Mal zur Witwe gemacht und in die Einsamkeit hinabgestoßen wie in eine Schlangengrube. Doch während sie ihren Mann Paul einst unter Tränen begraben und damit einen
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