Die Ängstlichen - Roman
denn da?«, wollte sie wissen und klang wie die Dame von der Auskunft, die eine Frage nicht richtig verstanden hatte.
»Wer hier spricht, verdammt noch mal!?«, rief Rainer perplex und spürte, wie seine eben noch kribbelnde Angst sich in blanken Zorn wandelte. »Na, was denkst du wohl? Der Gasmann vielleicht? Oder die katholische Kirche? Der, mit dem du gestern gefickt hast natürlich, wenn’s recht ist! Herrgott, Rita, ich bin’s, Rainer! Stehst du auf der Leitung? Oder was ist los mit dir?«
»Ach du«, antwortete sie seltsam abwesend; sie hauchte die Worte mehr, als dass sie sie sprach. Die Art, wie sie redete, schleppend und leise, so als hätte sie Drogen genommen, Trips, Crack, irgend so etwas, das ihr das Hirn vernebelte und ihr Sprechzentrum beeinträchtigte, irritierte ihn.
»Also ich hab gerade Besuch«, sagte sie tonlos, »ob du vielleicht später noch mal anrufen könntest? Ja? Sei so lieb! Danke!«, und legte auf.
Rainer hatte gedämpfte Musik im Hintergrund gehört, Jazz, eine fürchterlich quäkende Trompete. (Für Rainer war Jazz die Kapitulation des guten Geschmacks vor dem aufgeblasenen Ego irgendwelcher ehemaliger Baumwollpflückersöhne, die, statt ihr Geld auf sinnvolle Weise zu verdienen, hemmungslos ihre Blechblasinstrumente traktierten und sich Künstler nannten. Stand ihm selbst der Sinn nach ein paar entspannenden Takten Musik, legte er Neil Diamond, Chris de Burgh oder Céline Dion auf, goss sich, in alter spanischer Verbundenheit, einenVeterano Osborne ein und lief mit dem Cognacschwenker in der Hand, in dem die rostbraune, an abgestandenen Urin erinnernde Flüssigkeit hin und her schwappte durch das Wohnzimmer, wie ein Gutsbesitzer, der selbstzufrieden seine Ländereien abschritt und hinter seiner in Falten gelegten Stirn Strategien zur weiteren Ausdehnung seiner Macht ersann.
Genau betrachtet waren Fragen zum taktischen Verhalten im Allgemeinen und, mit Blick auf die Firma, im Speziellen nie seine wirkliche Stärke gewesen. Doch gecoacht von Ulrike, die ihm ihre gewieften, weitblickenden Winkelzüge keineswegs uneigennützig eingeflüstert und mit auf den Weg in diese oder jene Verhandlungsrunde gegeben hatte, hatte er, rückblickend gesehen, eine ganz erstaunliche Karriere gemacht.
Rainer hängte den Hörer ein und trat rasch aus der ihm plötzlich beschämend hell erscheinenden und noch dazu nach Urin und kaltem Rauch stinkenden Kabine, denn er hatte auf einmal das peinigende Gefühl, im ganzen fahlen Schimmer seines Scheiterns und seiner Schmach darin ausgestellt zu sein.
Fassungslos starrte er zum Himmel und ließ die kühle würzige Nachtluft in seine Lungen einströmen. Er fror und fing an zu schlottern. Über der Rhön lichteten sich die eben noch scheinbar hermetisch geschlossenen Wolkenbänke und gaben den Blick auf einen helleren Spalt Atmosphäre frei, in dem nun da und dort diffus erkennbar Sterne blinkten.
Rainer schielte nach oben in die lichte Schwärze in der Vorstellung, dass womöglich dort, in der riesigen, unvorstellbaren Entfernung unbekannter Galaxien, fremdes Leben herrschte. Trösten allerdings konnte ihn dieser Gedanke nicht im mindesten. Er musste an Ulrike denken. Doch wo war sie überhaupt, gerade jetzt, da man dabei war, ihm den Boden unter den Füßen wegzuziehen?
U lrike saß auf Brittas neuer Musterring-Couch (die Beine übereinandergeschlagen und mit vor der Brust verschränkten Armen), nippte lustlos an ihrem Gin Tonic und zupfte sich eine Fluse vom Rock ihres nachtblauen Strenesse-Kostüms, während Britta auf die Mattscheibe des ihr zugewandten Fernsehers starrte und dem Frankfurter Privatdetektiv Josef Matula dabei zusah, wie er in die Sachsenhäuser Villa eines windigen Bankiers einstieg, um sich dort die entscheidenden Beweise für die Unschuld der in Untersuchungshaft befindlichen Klientin seines Auftraggebers Dr. Lessing zu beschaffen. (Es war Freitag, und das vor ihr liegende Wochenende tat sich vor Ulrike auf wie das aufgerissene Maul eines gelangweilt gähnenden Zoolöwen, der trotz aller scheinbaren Trägheit jeden Moment zubeißen konnte.)
Klaus, Brittas Mann, war, nachdem er sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank genommen hatte, mit den Worten »Ich geh runter« in den Keller verschwunden, wo er seiner Modellbauleidenschaft frönte. Seit mehr als einer Woche brachte er dort unten Stunden um Stunden damit zu, aus zahllosen Leisten und Gussmetallteilen einen Krick-Bausatz der Gorch Fock im Maßstab 1: 90 zusammenzusetzen.
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