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Die Ängstlichen - Roman

Die Ängstlichen - Roman

Titel: Die Ängstlichen - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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wenn auch noch so schmerzhaften Schlussstrich unter sein Leben hatte ziehen können, erzeugte Janeks Verschwinden eine Art Phantomschmerz in ihr: Er war nicht mehr da (und würde wohl auch nicht wiederkehren), doch die Vorstellung, er könne, gegen alle Gesetze der Vernunft, jeden Moment zur Tür hereinkommen, seinen Mantel in der Diele aufhängen und am Tisch in der Küche Platz nehmen, war so verlockend, dass sie jedes Mal, wenn sie sich seinen Tod wirklich vorzustellen versuchte, das Gefühl hatte, etwas Blasphemisches zu tun. Zugleich kam ihr alles an diesem Tod verlogen und absurd vor. Und so ging sie, leise vor sich hin redend, durch die Wohnung, lief von Zimmer zu Zimmer und sagte Janek-Sätze, um ihm dadurch wenigstens für ein paar Sekunden ganz nah zu sein und sich weniger verlassen zu fühlen. »Du musstunter die Füße gucken, wenn du läufst«, sagte sie (das hatte er zu ihr gesagt, als sie im Hof, auf dem Weg zur Mülltonne, über einen herabgefallenen Dachziegel gestolpert und gestürzt war), »Lieber Unglück als gar kein Glück« oder »Selbst das Schlimmste ist erträglich, solange es aus Schokolade ist«. Am schlimmsten aber: Vor ihr lag die unumgängliche Entsorgung der Sachen und persönlichen Dinge, die er zurückgelassen hatte: seine Schuhe und Kleider, seine Papiere und seine Medikamente, die er in einem alten Schuhkarton im Küchenschrank gehortet hatte. Dazu massenweise Schachteln, gefüllt mit irgendwelchem Zeug: Fotos, vergilbten Ansichtskarten, Kämmen, speckigen ausrangierten Brieftaschen, Medaillen und alten Münzen. Und dann natürlich all die Dinge und Gerätschaften in seiner dunklen, zugigen Werkstatt. Doch wohin damit? Auf den Müll? In den städtischen Container? Hinein und weg damit? (Sowohl an seiner vorsintflutlichen Kreissäge als auch seiner selbstgebauten Drehbank hätte jedes Museum für Arbeitsgeschichte sicher seine wahre Freude gehabt.) In jeder Schraube steckte ein Stückchen von ihm, in jeder Unterlegscheibe und in jeder Mutter. Unmöglich, alles so einfach wegzuwerfen!
    Janek würde weiterleben, solange sie denken konnte und Herrin ihrer Entscheidungen war. Andererseits war sie ihm im Hinblick auf ihre Pläne (auch wenn es ihr schwerfiel, sich dies einzugestehen) sogar ein wenig dankbar für das, was er getan hatte. Sein Verschwinden entlastete sie und machte es ihr leichter, den letzten Schritt zu tun. Denn wenn es stimmte, was Pfarrer Blank predigte, und es tatsächlich dieses von ihm viel beschworene Jenseits gab, in dem alles besser und größer war und es mit allen, die man liebte, ein strahlendes Wiedersehen geben würde, musste ihr bei dem, was nun vor ihr lag, nicht länger bange sein. (Sie sah ihn wieder vor sich, desorientiert und wiebenommen von einem seiner Migräneanfälle. In solchen Momenten war sie auf Zehenspitzen um ihn herumgeschlichen, darauf bedacht, ihn nicht mit ihrer Existenz zu behelligen. Dann kniete er in der Regel auf dem Küchenboden, das Haupt auf die Sitzfläche eines Stuhls gebettet, als böte er es einem Henker dar. Plagte ihn die Migräne dagegen bei Tag, lag er im abgedunkelten Wohnzimmer auf der Couch und schrie auf, sobald auch nur der geringste Laut an sein Ohr drang oder ein verirrter Lichtstrahl über ihn hinwegstrich. Jahrelang hatte er ziemlich erfolglos Thomapyrin gegen die Schmerzen geschluckt, dazu permanent und in riesigen Mengen Bullrich-Salz zur Neutralisation seines nicht zuletzt durch die Tabletten verursachten Sodbrennens.)
    Johanna kamen die Tränen, sie liefen über ihre faltigen, leicht pelzigen Wangen, wenige Millimeter große, aus Enzymen, Antikörpern und Eiweißstoffen zusammengesetzte Gebilde, in denen sich, mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen, die gleißenden Umrisse der 60 Watt starken Glühbirne der Küchenlampe schräg über ihr so klar und scharf umrissen spiegelten, als umgebe sie eine zweite äußere Hülle aus brennendem weißem Phosphor.
    Hätte Johanna (deren krankhaft verdickte Augenlinsen in Folge des grauen Stars allerdings inzwischen so trübe waren wie die aufgewühlte Pfütze auf einer frisch umgepflügten Lehmscholle) sich in diesen Sekunden von außen sehen können (so wie ihr Schutzengel sie sah), dann hätte sie feststellen können, dass dort ein Mensch sass, der nun nichts mehr zu verlieren hatte. Eine Befreite unter lauter Gefesselten, eine Erlöste. Ja, das schon. Aber eine Glückliche? Nein, ganz so weit war sie noch nicht.
    Sie schlug die Sparbücher zu und starrte nachdenklich ins

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