Die äußerst seltsame Familie Battersby (German Edition)
Zauberer?
Ralph konnte nicht widerstehen. Der Duft, der vom Tablett aufstieg, war einfach zu verführerisch. Während er den letzten Scone vertilgte (einen, der nach Schinken-Ananas-Pizza schmeckte) und mit lauwarmem Tee herunterspülte, kündigte sein Handy wieder eine SMS an. Er angelte es unter dem Bett hervor.
RALPH. HABE BÄREN AKTIVIERT. HERZLICH ME
Nachdem Ralph vergeblich versucht hatte, die SMS zu beantworten, versteckte er das Handy wieder. Er beschloss, den Bären am Fußende seines Bettes erst einmal nicht anzurühren – falls Regina ihn doch irgendwie beobachtete. Er hatte sich ihre Besuchszeiten gemerkt (jeweils zum Frühstück, zum Mittagessen, zur irischen Teestunde, zur englischen Teestunde, zur russischen Teestunde und zum Abendessen) und wusste, dass die Zeitspanne zwischen Mittagessen und irischer Teestunde die längste und somit sicherste war, um einen Blick zu riskieren. Während er das Stofftier betrachtete, das ihn aus seinen Glasaugen unverwandt anstarrte, fragte er sich, was Maartens SMS wohl zu bedeuten habe.
Der Bär war eines dieser Plüschtiere mit beweglichen Gliedern, in die Eltern vernarrt sind. Kinder dagegen finden sie meistens nur kratzig. Als das sichere Zeitfenster kam, inspizierte Ralph den Teddy von allen Seiten und war schon drauf und dran, sogar sein Innenleben zu untersuchen, da bemerkte er plötzlich an einer Hinterpfote des Tiers ein loses Stück Faden. Er zog daran, der Faden wurde länger und länger, bis das abgewetzte Pfotenpolster aus Samt herausfiel und ein Spiegel zum Vorschein kam. Zumindest sah es aus wie ein Spiegel. Aber darin sah Ralph nicht sein eigenes Gesicht, sondern ein Mädchen, das sich durch tiefe Schneewehen vorankämpfte. Als Ralph den Spiegel etwas neigte, sah er wie durch ein Fernglas einen anderen Ausschnitt derselben Szene. Er schaute genauer hin. Das Mädchen war Daphne.
Jetzt erst nahm er das leise Geräusch wahr, das aus den Vorderpfoten des Bären kam. Als er sich das Stofftier ans Ohr hielt, hörte er die perfekte Geräuschkulisse einer Winterlandschaft: das Heulen des Windes und sogar das Keuchen von Daphne, die tapfer durch den Schnee stapfte. Das Ganze war zudem von einer Stimme unterlegt, einer jungen, wohlklingenden Männerstimme, die alles beschrieb.
Jetzt wusste Ralph, was zu tun war: Er legte sich den Bären um den Kopf wie ein veraltetes Virtual-Reality-Headset. Schon konnte er Daphnes Geschichte verfolgen.
Daphne schleppte sich einen verschneiten Pfad entlang. Wann oder wie alles begonnen hatte, wusste sie nicht. Eigentlich wusste sie im Moment so gut wie nichts. Es war so, als hätte sie schon immer als kleines Mädchen in einer längst vergangenen Zeit gelebt – warum, war ihr entfallen.
Während sie durch den Schnee stapfte, redete sie unentwegt vor sich hin (dazu neigen kleine Mädchen, wenn sie im Märchen allein unterwegs sind – vor sich hinreden und bitterlich weinen, du wirst merken, dass auch Daphne es regelmäßig tut). »Ich vermisse meinen kleinen Freund und meinen Bruder so sehr. Sie sind für immer fort.«
»Nein«, widersprach der Sonnenschein. »Das glaube ich nicht.«
»Genau, wir glauben es auch nicht! Das kann nicht sein! Sie sind nicht für immer fort!«, riefen die Winter-Singvögel, die immer noch einen drauf setzen mussten.
Daphne fragte sich, was sie tun sollte. Vor langer Zeit war sie mit ihren Eltern, ihrem Bruder und ihrer Schwester zusammen gewesen – und mit einem amerikanischen Jungen namens Ralph. Daran erinnerte sie sich. Dann war in einem Märchenschloss irgendetwas passiert, das gewaltsam endete. Von da an hatte sie ein völlig anderes Leben geführt. Sie war ein dänisches Mädchen, das seinen Bruder Cecil und seinen allerbesten Freund verloren hatte, einen Jungen namens Ralph. Der Gedanke an ihn ließ ihr Herz schneller schlagen.
Alles in allem war ihre Stimmung ziemlich mies. Es gab zwar Momente, in denen sie diese weiße Welt genoss, wo die Vögel und sogar das Sonnenlicht sprechen konnten. Eigentlich jedoch war ihr alles zu süß hier. Es war unangenehm süß hier, so als hätte sie Hände voll Zucker gegessen.
Ralph war so klug, er hätte sicher verstanden, was hier vor sich ging. Und Cecil war so entschlussfreudig, dass er gewusst hätte, was zu tun war. Beatrice wiederum hätte dafür gesorgt, dass jeder die richtigen Schlüsse zog. Aber keiner von ihnen war da, und Daphne hatte keine Ahnung, wie sie die drei vermissten Gefährten finden sollte. Bei diesem Gedanken
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