Die Affen von Cannstatt (German Edition)
in ihrer Muße, die sie nicht gesucht haben. Ohnmächtige in ihrem Zorn auf die Anforderungen, denen sie nicht gewachsen sind. Schmerzpatienten schreiben gegen ihren Schmerz. Wenn ich Gotteszell verlasse, bin ich frei. Zur Freiheit verpflichtet. Wenn ich etwas zu sagen habe, soll es ausgesprochen werden. Meine Worte seien Rede statt Rückzug in Klugheit, die sich im Text bespiegelt, dem niemand widersprechen kann, weil er dem Widerspruch keinen Raum gibt. Das Leben unter Menschen ist Verhandlung, Auseinandersetzung und Selbstbehauptung. Und ich will endlich leben. Ich habe Mut zum Streit, Kraft zum Disput. Es wird mich nicht umwerfen, wenn ich ein Wortgefecht verliere. Schon morgen bekomme ich eine neue Chance.
Notiz von Lisa Nerz
Camilla hat über ein Jahr an den Knast verloren. Das ist meine Schuld. Aber wer weiß, wozu es gut ist, pflegt meine Mutter mit dem Zynismus der unerschütterlichen Katholikin zu sagen. Wen Gott liebt, den züchtigt er. So tief bin ich gesunken, dass ich geneigt bin, meiner Mutter recht zu geben, bloß um mich selbst zu entlasten. Denn Camilla verzeiht mir nichts, die undankbare Krott. Sie hat vielleicht ein Jahr verloren, aber alles gewonnen. Ich habe ihr Mutterproblem gelöst. Ich habe ihr Freiheit verschafft. Ihr Dank klang dennoch verkniffen. Es war meine Pflicht und Schuldigkeit, das Mindeste, was ich tun konnte.
Aber ich verzeihe dir auch nicht, liebe Camilla. Du hast mir doch praktisch keine andere Wahl gelassen. Auch wenn ich mit dieser Behauptung in deinen Ohren wie deine Haftgenossinnen klinge, die die Verantwortung für ihre Taten ihren Opfern zuschanzen. Blendest mich mit Pfefferspray. Ja geht’s noch. Gibst die feine Teetrinkerin. Und da soll ich mich nicht fragen, welche Tränke zu brauen du imstande bist, wenn jemand deine Kreise stört? Nein, Camilla, fair warst du nicht. Du wusstest doch, dass ich dein Bett und deine Wohnung in der Gewissheit verlasse, Till Deutschbeins Mörderin gefunden zu haben. Du füllst mich mit Tee ab, erzählst mir von deiner Mutter der Kindsmörderin und verführst mich anschließend. Wozu denn, wenn nicht, weil du hofftest, die Liebe werde mich zur Närrin machen? Und später könntest du mich irgendwie loswerden. So wie den Professor und deinen Exfreund. Aber du hast dich verrechnet, mein Herz. Ich bin doch noch ein gutes Stück abgebrühter als du. Ich habe dich sofort an die Staatsanwaltschaft verraten.
Okay, ich lag falsch. Ich hatte mich geirrt. Die dumme Hyäne mit ihrem Jagdinstinkt. Erbärmlich noch dazu in meiner Scheißangst, ich könnte dich nicht wieder rausholen aus Gotteszell, ohne den Laden zu sprengen. Nee, stimmt schon, eine Heldin war ich nicht. Dafür hast du die Chance bekommen, dich zum tapferen Opfer meiner Umtriebe zu stilisieren. Glückwunsch, meine Liebe.
Du hast dich also entschlossen, deine Haftbücher in Auszügen zu veröffentlichen. Okay. Du brauchst Geld. Und was der Staat den Opfern seiner Justizirrtümer gewährt, ist ein Witz. Du hast Job und Wohnung verloren, du willst dir ein Zweitstudium finanzieren. Aber ich fürchte, du überschätzt die Reichtümer, die einem ein Buch beschert. Wer will denn so was lesen? Na gut, vielleicht hast du sogar einmal Glück. Aber diesen Ruhm willst du nicht. Sie werden dich eine Weile durch die Talkshows reichen als Tochter einer Kindsmörderin, die unschuldig im Gefängnis gesessen hat. Und wenn das langweilig geworden ist, machen sie kurzen Prozess mit dir. Einen gibt es immer, der Zweifel sät an deiner Geschichte, die du in die Öffentlichkeit trägst. Deinen Freispruch aus erwiesener Unschuld machst du zunichte, wenn du daraus öffentlich Kapital schlägst. Das ziemt sich nicht für ein Opfer. Später wird es heißen: Sie hat uns alle an der Nase herumgeführt, hat die Taten vermutlich doch begangen, der Engel mit den Eisaugen. Hättest du mich mal gefragt … ich habe Geld. Ich wäre zur Entschädigungszahlung bereit gewesen.
Aber das mit uns beiden hat nicht sollen sein. Du hast keinen Zweifel daran gelassen, dass du mit mir nichts mehr zu tun haben willst. Doch ohne das Unrecht, das ich dir getan habe, wärst du nicht als freie Frau aus deinem düsteren Cannstatter Pelzladen herausgekommen. Du wärst heute noch die stille Camilla mit dem Faible für grünen Tee, die Schöne, die sich schämt. Dein Dank war höflich, als wir uns zum letzten Mal nach dem Haftprüfungstermin sahen. Du standst zwischen Richard und Meisner. Einen Moment lang wirktest du, als wolltest du
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