Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Jackentasche? Um etwas hineinzutun, weil er beide Hände braucht, um das Tor zu überklettern. Zum Beispiel den Schlüssel für die Nachtgehege. Ja, genau. Deshalb befand sich an diesem Schlüssel ebenfalls meine DNS. Er hat sich einige Zeit am Stoff der Jackentasche gerieben, in der mein vollgeschnäuztes Taschentuch gesteckt hatte, und unzählige Male auch meine Hand.
Endlich habe ich nun auch dafür die Erklärung. Es ist alles ganz einfach, wenn man einen Zipfel der Geschichte hat. Es erzählt sich von selber. So wie sich die Geschichte von Camilla der Mörderin erzählt hat. Man braucht nur wenige Anhaltspunkte, um jemanden zu verurteilen.
Aber was für ein Irrsinn! Ich sitze da und schüttle den Kopf. Was haben die sich nur gedacht, diese Jungs? Vor den Gorillas und ihrem Weißrücken hatten sie Respekt, ja. Aber nicht vor den Bonobos, der Weibergruppe mit ihrem fantastischen Versprechen sexueller Offenheit.
Sie steigen ein, dringen vor, machen Licht. Aber was genau haben sie dann vor? Wer geht rein? Sicher Till. Er gibt den Mann, der sich auskennt. Er hat den Schlüssel. Eigentlich hätten sie es da schon beide mit der Angst bekommen müssen angesichts einer mit offenen Mäulern kreischenden langarmigen Horde. Aber Till vertraut seinem Pfefferspray: einmal in die Runde und dann rein, einen der Kleinen packen, Deko oder Mokili, und wieder raus.
Es hat nicht geklappt. Till hat selbst Capsaicin in die Augen bekommen. Zete und Oicha sind durch die Tür entwischt, und die anderen sind über Till hergefallen. Geblendet und schmerzwahnsinnig hat er aus dem Nachtgehege nicht mehr herausgefunden.
Der Affenerlöser bekommt Panik. Er schmeißt das Tor zu, schiebt den Riegel vor und hängt das Schloss ein. Zete und Oicha springen ihn an, es herrscht ein Riesengeschrei. Er kann nicht mehr klar denken. Flüchtet.
Dann allerdings muss er das Pfefferspray in der Hand gehabt haben. Genau. Wahrscheinlich sollte er die Affen in Schach halten und hat dabei auch Till geblendet. Dummköpfe. Aber so könnte es gewesen sein.
Nein, halt! Was ist mit dem Tilidin in Tills Blut? Ein Schmerzmittel, von dem ich im Fernsehen gesehen habe, dass es sich die männliche Diskojugend einwirft, um sich auf eine Schlägerei vorzubereiten. Tilidin nimmt man doch nicht wirklich wegen Arthrose im Knie. Meine Pflegemutter hat immer Ibuprofen genommen.
War Till etwa auf Schmerzen gefasst?
Wollte er am Ende gar …
Kann das sein? Wollte er sterben da drinnen unter den Bonobos? Hat er den dummen Affenerlöser dafür missbraucht? Ihm falsche Anweisungen gegeben? War das der wahre Plan?
Nachdem alles kaputt war. Die Peofis kurz vor dem Ende wegen einer großen Steuerermittlung, und er selbst ebenfalls wegen eines allzu frechen Spesenbetrugs, von mir hämisch abgemeiert, in der Ehe und an der Karriere gescheitert, weder Anführer einer Revolution noch Chef einer großen Organisation oder Firma, eben kein Held geworden.
Er löscht alle E-Mails an Brigitte, in denen er um Verständnis für seine Tierliebe bettelt, er zieht sich meine alte Jacke an, um mir zu zeigen, wer sein wahrer Mörder ist, und geht zu den Bonobos, damit sie ihn umbringen.
Aber brauchte er dafür wirklich einen zweiten Mann? Das hätte er auch allein tun können. Nein, eben nicht. Er brauchte jemanden, der den Riegel von außen zuschiebt und das Schloss zudrückt, damit die Bonobos nicht in den Gang entkommen und ihn womöglich gar nicht mehr angreifen.
Ja, so könnte es auch gewesen sein.
Pervers. Kann man sich so was wirklich ausdenken? Wenn, dann Till.
Jetzt muss die Polizei nur noch den anderen finden. Diesen Zeugen. Aber noch bevor man ihn findet, wird die Staatsanwaltschaft ein Wiederaufnahmeverfahren beantragen, weil sich ein gänzlich neuer Sachverhalt ergeben hat, der mich zweifelsfrei entlastet. Ein Freispruch in der Hauptverhandlung ist nur noch Formsache, hat mir Meisner versichert, und Weber hat dazu genickt. Und lange vorher – womöglich schon in ein paar Tagen – wird der Haftbefehl gegen mich aufgehoben werden, und ich bin frei.
Warum freue ich mich nicht? Warum sitze ich jetzt hier und heule?
Donnerstag, 6. März
Morgen ist Haftprüfung. Wenn ich nachher den Computer heruntergefahren und zugeklappt habe, ist das Haftbuch zu Ende. Und nie wieder werde ich irgendeine Form von Tagebuch schreiben. Tagebücher sind Zeugen einer Gefangenschaft. Jugendliche schreiben sie, wenn sie ausbrechen wollen, aber nicht können, und nicht wissen, wohin. Oder Häftlinge
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