Die Affen von Cannstatt (German Edition)
allgemeine öffentliche Stimmung Einfluss auf einen Prozess hat, aber es sind immerhin fünf Köpfe, und einige davon sind Trotzköpfe.
»Frauen werden nicht freigesprochen«, hat Till immer behauptet. »Denn Justitia ist eine Frau. Und Frauen, das wissen wir, sind untereinander gnadenlos, getrieben von Missgunst und Eifersucht. Zwar hat man Justitia die Augen verbunden, aber sie hat ja immer noch Ohren, um zu hören, ob eine Frau auf der Anklagebank sitzt. Dann neigt sich ihre Waage tiefer unter der Last der Schuld. Frauen werden nicht wegen Totschlags verurteilt, sondern immer wegen Mordes. Die Gewalttat einer Frau gegen Leib und Leben eines anderen, vor allem eines Mannes, wird bevorzugt mit Planung und Berechnung gleichgesetzt. Die tötende Frau wird als kaltblütige Teufelin gesehen, der tötende Mann ist nur ausgerastet. Er begeht einen Ehrenmord, wo sie einen feigen Giftmord begeht.«
»Aber heute doch nicht mehr«, meinte ich damals.
»Heute mehr denn je«, sagte er. »Frauensolidarität ist ein Märchen aus der frühen Zeit des Feminismus. Das Projekt ist gescheitert. Und zwar an euch. Heutzutage wird der Feminismus nur noch von den Männern vertreten. Aber wie lange werden wir noch Frauenquoten fordern und bei der Stellenvergabe Frauen bevorzugen, wenn ihr selbst kaum Anstalten macht, euch zusammenzutun und die Macht zu erobern?«
Mich erschreckte Tills böser Ton. Er hatte sich verändert. Er hatte uns aufgegeben, auch mich. Heute glaube ich, sein Feminismus war Opportunismus. Till hat immer nur die Sache von Menschen verfochten, die er hinter sich sammeln und anführen konnte.
Haftbuch, Freitag, 5. April
Jemand hat während des Versorgungsaufschlusses Sachen aus meiner Zelle gestohlen. Nicht den Computer, aber Nahrungsmittel, Müsli, Kekse, Knäckebrot und meinen China Green Jade Qucha, den ich mir von einem Teeversand habe schicken lassen.
Geschrei anfangen, ist mein erster Gedanke, zur Abteilungsbeamtin rennen, eine Zellendurchsuchung fordern. Aber ich besinne mich. Da ich Hausarbeiterin bin, glauben sie schnell, ich hätte Vorteile und die Macht auf meiner Seite. Wer auch immer es war, sie will mich provozieren. Sie wartet darauf, dass ich Hilfe schreie und mich auf die stürze, die den grünen Tee hat. Die wird dann grinsen und sagen, sie hat ihn selber gekauft oder gefunden oder geschenkt bekommen, von mir oder von einer, die sie nicht verrät. Und ich bin dann die Petze, die sich nicht allein durchsetzen kann.
Manchmal möchte ich, dass die hier drinnen mich nicht für unschuldig halten, sondern mir einen Mord zutrauen. Oder auch zweie. Vielleicht würde ich mich dann nicht so unsicher, nicht so schnell bedroht fühlen, weil ich anders bin. Würde nicht glauben, freundlich sein zu müssen, damit man mir nichts tut.
Und bin ich nicht immerhin die Tochter einer Kindsmörderin, ein Kind der Lieblosigkeit so wie all die anderen hier drin, rieche ich nicht auch nach Tod? In mir fließt das Blut meiner Mutter, das Blut der Verantwortungslosen, derer ohne Mitgefühl, die man nicht versteht, die ihre Taten selbst nicht verstehen.
Ich erzähle Yvonne, dass ich beklaut worden bin, und frage sie, was ich tun soll. Sie zuckt mit den Achseln. Sie respektieren dich nicht, sagt sie. Du bist zu hilfsbereit. Wer hier nicht lernt, sich selbst zu schützen, der wird ausgeplündert wie eine Weihnachtsgans. Und dem wird auch sehr wehgetan.
Wer hat ihr wehgetan? Sie hat es nicht gern, wenn man sie fragt, deshalb frage ich nichts.
Anfangs, sagt sie, hätten ihr die Drogenabhängigen auch leidgetan. Man müsste ihnen doch helfen, hat sie gedacht. Aber jetzt habe ich kein Mitgefühl mehr. Nein, das ist nicht richtig, das klingt zu hart. Ich falle nur auf die Jammergeschichten nicht mehr so rein. Letztlich sind sie doch selber schuld, dass sie hier drin sind und dass es ihnen schlecht geht. Ich bin doch da auch nicht hineingeraten, sagt sie. Da ist viel eigenes Tun dabei.
Haftbuch, Samstag, 6. April
Jammere ich? Was unterscheidet mich von Elli, die behauptet, sie habe ihren Mann in Notwehr stranguliert? Wie viele Menschen sitzen wirklich unschuldig in unseren Gefängnissen? Das bin doch nicht nur ich. Vielleicht sind viele von denen, die ihre Unschuld beteuern, genauso wenig verrückt wie ich. Sie drücken sich auch nicht vor der Verantwortung für ihre Tat. Sie haben sie einfach nicht begangen. Man müsste ihnen nur mal zuhören.
Haftbuch, Sonntag, 7. April
Der Baum, den ich von meinem Fenster aus sehe, zeigt
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