Die Affen von Cannstatt (German Edition)
noch kein Blättchen, hat aber kleine grüne Bobbel bekommen. Er wartet auf den Frühling. Ich auch. Seit ich hier bin, liegt mal Schnee, mal keiner, aber sonst ändert sich nichts. Ein endloser Winter. Es wird schnell kalt in der Zelle, wenn ich das Fenster aufmache. Alles ist eingefroren, in mir und draußen. Wieder kein Hofgang heute. Ich habe den ganzen Tag nur auf dem Bett gelegen. Meine Augen lesen ein Buch – Der Graf von Monte Christo –, mein Kopf liest nicht mit.
Haftbuch, Mittwoch, 10. April
Die grünen Bobbel haben sich zu kugeligen Blütendolden entfaltet. Sie stehen an den Spitzen kahler Zweige. Der Baum wirkt mimosenhaft, aber tapfer. Immer noch kann ich mir nicht denken, was es für ein Baum ist. Danach googeln kann ich nicht.
In der Nacht dringe ich tief in die Vergangenheit. Gehe die Zeit zurück, steige hinab in den dämmrigen Keller, wo die Erinnerungen liegen. Es hat sie niemand geordnet. Was nebeneinander lagert, muss nicht zusammengehören, nicht einmal zusammenpassen. Manches ist unvollständig, von manchem weiß ich nicht, was es ist. Aber genau das muss ich herausfinden. Wenn ich nur genau genug bin – hoffe ich –, dann werde ich den Beweis meiner Unschuld entdecken. Ich muss.
Fortsetzung Verteidigung Camilla Feh
Es schneit. Als ich Montagmorgen in der Firma eintreffe, stehen die Kollegen zusammengeballt in der Kaffeeküche. »Deutschbein ist tot«, rufen sie mir entgegen. »Der Tote in der Wilhelma, das ist Deutschbein.«
Klaus lacht laut auf und hält sich den Mund zu.
Ich habe schon beim Frühstück in der Zeitung von einem Toten im Menschenaffenhaus gelesen. An Till habe ich dabei nicht gedacht, sondern an Heidrun. Hoffentlich ist sie es nicht gewesen, die Samstag früh die »grausige Entdeckung« gemacht hat. Die Kriminalpolizei ermittelt in alle Richtungen, heißt es. Eine oder mehrere Personen, darunter der spätere Tote – seltsame Formulierung –, sind augenscheinlich durch ein gekipptes oder defektes Fenster über den Aufenthaltsraum der Pfleger ins Menschenaffenhaus eingestiegen und haben sich dann mit geeigneten Schlüsseln Zugang zum inneren Bereich der Käfiganlage verschafft. Wie es zu dem blutigen Geschehen im Nachtgehege der Bonobos kommen konnte, ist derzeit noch völlig ungeklärt.
Es sind Wildtiere, hat Heidrun mich immer gewarnt. Man kann es sich nicht vorstellen, wenn sie sich mittags ans Gitter schmiegen und sich den Tee in die vorgeschobene Unterlippe gießen lassen. Sie trinken aus Bechern wie die Kinder, aber sie sind keine Kinder. Sie sind erwachsen und wehrhaft. Man lässt sie aus Bechern trinken, um sie einmal am Tag ans Gitter zu holen und aus der Nähe besehen zu können. Man trainiert sie, still zu sitzen, sich in die Ohren und Augen schauen und sich gegebenenfalls mit Medikamenten versorgen zu lassen, ins Getränk gemischt oder verpackt in Müslibällchen.
»Sind die Bonobos nicht diese Zwergschimpansen, die dauernd miteinander pimpern?«, fragt ein Kollege.
Ich sage nichts dazu. Es muss niemand wissen, dass ich die Bonobos kenne. Doch ihr Geschrei klingelt wieder in meinen Ohren. Die Bilder kommen sofort, ich muss mir nichts vorstellen. Ich sehe es vor mir. Ihre ersten Bisse dürften Tills Ohren und Händen gegolten haben. Warnung und Zurechtweisung. Benimm dich, Junge. Till hat vermutlich versucht, die schwarzen Gnome wegzuschlagen. Sie kreischen fürchterlich. Allein das macht einen wahnsinnig. Till verliert die Orientierung, rennt gegen die Gitter, findet den Ausgang nicht. Sie beißen ihn in die Füße, er tritt zurück, sie zerreißen ihm die Achillessehne. Er fällt, schlägt mit dem Kopf irgendwo gegen. Sie fallen über ihn her und beißen ihn, bis er sich nicht mehr regt. Vielleicht ist er verblutet. Affen töten ihre Beute nicht mit einem Kehlbiss. Sie reißen ihr bei lebendigem Leib die Eingeweide heraus.
Egal, wie man zu Till Deutschbein gestanden hat, so einen Tod wünscht man niemandem. Die Kollegen sind betreten. Einigen sehe ich an, dass sie Schuldgefühle haben. Daniela, vor deren Nase er auf den Posten gesprungen ist, den sie schon sicher glaubte, Batari, die nie gewusst hat, wie sie sich ihm unterwerfen muss, damit er sie in Ruhe lässt. Alejandra, die sich immer gleich ungerecht behandelt fühlt.
Ich bin froh, dass niemand weiß, dass Till und ich vor Jahren einmal ein Paar gewesen sind.
Als wir uns zufällig im La Piazza begegneten, hätte ich ihn fast nicht wiedererkannt. Erst gut ein Jahr ist das her. Till trug Anzug
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