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Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
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überleben. Ich mache mich davon. Er hat noch mindestens eine Viertelstunde zu kämpfen, bis er wieder sehen kann. Pfefferspray enthält ja nicht Pfeffer, sondern Chiliöl, Capsaicin. Trifft es das Gesicht, schwellen die Schleimhäute an und schließen die Augen vollständig.
    Von den Autofahrern hinter Schnee und Windschutzscheiben hat es anscheinend niemand mitbekommen. Die Reihe ruckelt weiter, aufgezogen von den Ampelanlagen an der Wilhelma, wo die B10 von Esslingen mit dem Verkehr aus dem Remstal in die Stadt biegt, hinauf zum Pragsattel. Ein paarmal drehe ich mich noch um, kann aber den Burschen schon bald in der Dunkelheit mit Schneegestöber nicht mehr sehen.
    Ich überquere die Wilhelmsbrücke. Das Theaterschiff liegt verschneit im Wasser. Schwarz steht der Fluss zwischen seinen Spundwänden. Nur selten erkennt man, in welche Richtung der Neckar fließt. Einst war er ein wilder Kerl, der Cannstatt überschwemmte. Dann hat man ihn gezähmt, zuerst mit einem Wehr, genau hier, schließlich mit Kanalwänden und Dutzenden von Schleusen bis nach Heidelberg hinunter. Seit zweitausend Jahren, seit den Römern, gibt es hier eine Brücke. Erst König Wilhelm der Erste ließ sie ganz in Stein bauen, und weil die Cannstatter sich sträubten und nicht zahlen wollten, bezahlte er sie selber.
    Ich schlittere, die Autos kriechen. Der Thaddäus-Troll-Platz ist versunken, die Bronzefigur des alten Dichters auf der Bank kaum noch zu erkennen, von den Enten, die ihn ewig umgeben, sieht man nichts mehr. Die Flocken schwirren in den Lichtern des Café Tratsch am Eingang zur Marktstraße. Die Leute haben Schirme aufgespannt, Kapuzen hochgeschlagen, Hüte und Mützen auf dem Kopf. Ein Collie trägt eine Schneedecke.
    Doch der Zauber ist weg. Ständig muss ich an den Zusammenstoß mit dem Kerl denken. Ich habe total panisch reagiert. Warum hat er mich auch so überraschen müssen? Richtig in den Weg gestellt hat er sich mir. Die Erinnerung rekonstruiert oder konstruiert die Szene zu meiner Entschuldigung. Mit der Schulter hat er mich gestoppt, dann angepackt. Etwas Anzügliches hat er gesagt wie: »Nicht so hastig, meine Kleine!« Was hat er denn gedacht, wie ich das verstehe? Heutzutage muss ein Mann damit rechnen, dass eine Frau Pfefferspray dabeihat.
    Jetzt, wo ich es aufschreibe, erschrecke ich wieder. Ich rechtfertige mich genauso wie meine Mithäftlinge, die dem Opfer die Schuld an ihrer Tat zuschieben.
    Am Klösterle vorbei stapfe ich zum Hagelschieß. Niemand hat mir bisher sagen können, was der Name bedeutet. Könnte sein, dass die Gasse nach dem Schießplatz benannt wurde, der umzäunt, also mit einem Hag versehen war. So steht es unter dem Straßenschild. Ich reime mir anderes zusammen: Hagel nannte man früher kleine Steine, und ein Schieß war eine abschüssige Fläche. Es könnte in grauer Vorzeit – vor Stadtmauer und Damm – abschüssig zum Neckar hinuntergegangen sein.
    Schneeberge türmen sich in der Gasse, in die sich so manches mittelalterliche Haus neigt. Ich wohne seit vier Jahren in einem alten neckarseitig gelegenen Haus, in das der Architekt auf Stahlträgern drei Stockwerke eingezogen hat. Unten und im ersten Stock wohnt eine Lehrerfamilie mit vielen Stiefeln vor der Tür. Es riecht nach Lauch.
    Drei hühnerleitersteile Treppen führen unters Dach. Meine Wohnung besteht aus Schlafzimmer, Badezimmer und Wohnstube mit Kochnische. Ich habe damals nicht lange überlegt. Der kleine Balkon hat mich bestrickt. Von ihm kann ich am Rosensteinbunker vorbei über den Neckar hinweg zur Wilhelma schauen. An das ewige Rauschen des Verkehrs habe ich mich gewöhnt. Heute ist es still.
    Ich setze Teewasser auf und werfe meinen Laptop an. Entspann dich. Es ist vorbei. Tills Tod hat meine Geschichte mit ihm beendet. Es ist mir eine Erleichterung. Zugleich ist sein Tod mir so fremd, wie sein Körper es geworden ist, an dem ich mich einst erfreut habe.
    Schon bald nach unserem Wiedersehen habe ich aufgehört, mir den alten Till nackt unter dem Anzug zu denken, mich unserer Liebesakte auf dem Teppich, der Couch, im Bett zu erinnern und sein festes Organ in mir spüren zu meinen. Eine abgekühlte Liebe bleibt irgendwo liegen. Wo ist unsere liegen geblieben? Vielleicht unterm Kantinentisch, an dem sich Till ziemlich am Anfang meiner Tätigkeit bei Peofis mit einem Becher Kakao zu mir setzte. Seit er nicht mehr vegan lebt, kann er Milch trinken. Kaffee hat ihm nie wirklich geschmeckt. Tee war ihm zu umständlich. Jetzt sitzt er

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