Die Affen von Cannstatt (German Edition)
in der Geschlossenen. Wie es ihr geht, weiß niemand so genau. Wenige beschäftigt ihr Schicksal noch.
Nur Batari belastet es bis heute. Es hat sich überhaupt nicht angedeutet, erzählt sie mir. Sie hatte jedenfalls keine Ahnung. Manuela hat sich aufs Wochenende gefreut, hat von einer geplanten Fahrradtour mit Mann und Kindern gesprochen und Tschüss gesagt. Eine halbe Stunde später hat Batari sie in der Damentoilette gefunden, mit aufgeschnittener Pulsader.
Wie bei den Affen, denke ich. In Affengruppen darf niemand Schwäche zeigen, sonst wird er in der Rangfolge nach unten gebissen. Deshalb drücken die Tiere ihre Krankheiten weg. Die Pfleger merken erst sehr spät, wenn ein Tier schwerkrank ist.
Daniela beugt sich in der Kantine so weit übers Tablett, dass ihre Brüste beinahe in die Gulaschsoße tunken, und raunt: »Zuerst hat es immer geheißen, Manuela kommt bald wieder. Auf einmal hat man dann gehört, dass sie gekündigt hat. Daran ist die Seitz schuld, sie hat Manuela fertiggemacht. Die Uschi erträgt keine klugen Frauen, weder neben sich noch unter sich.«
Manuela hat nicht einmal mehr selbst ihren Schreibtisch ausgeräumt. Das hat ein anderer getan. Ziemlich schludrig. Ich habe hinten in einer Schublade einen USB-Stick gefunden. Zu Hause habe ich ihn in meinen Laptop gesteckt. Ich finde Sicherungskopien von Briefen, Statistiken, nicht zu Ende geschriebene Verbesserungsvorschläge und drei Bewerbungsschreiben von Manuela, darunter eines auf die Stelle, die Till dann bekommen hat.
Und dann stoße ich auf Manuelas Gedächtnisprotokolle. Demnach war Manuelas Hauptproblem nicht Seitz, sondern Till. Ich lese: »D sagt: Sie stehen ab jetzt unter verstärkter Beobachtung. Ich bin raus und aufs Klo und habe geheult.« Oder: »Ich habe nur noch Rauschen im Kopf. Wenn ich zu Hause bin, kann ich mich nicht mehr an den Tag im Geschäft erinnern. Wenn mein Mann fragt, wie mein Tag war, sage ich: gut. Er denkt, alles ist in Ordnung. Ich bin ein Automat. Koche, versorge die Kinder, bewirte die Gäste. Keiner merkt was.«
Im Büro sagt sie immer öfter – lese ich –, sie müsse schnell mal in den dritten oder vierten Stock hinauf, etwas abklären. Dann geht sie aufs Klo. Für eine Stunde oder länger. Wenn zweimal jemand an ihrer Tür gerüttelt hat, wechselt sie die Toilette.
Eines Tages bittet Till sie wieder einmal zu sich ins Büro. Manuela notiert: »D sagt: Sie waren heute Vormittag nicht an Ihrem Platz. Ich: Ich war vermutlich kurz auf der Toilette. D sagt, das sei mir natürlich gestattet (süffisantes Lächeln). Es liege ihm auch fern, mir nachzuspionieren, aber als er ein zweites Mal angerufen habe und schließlich hinuntergegangen sei, hätte man ihm mitgeteilt, ich sei im Haus unterwegs. Und ich wäre ja neuerdings ziemlich oft im Haus unterwegs, über Stunden wisse keiner, wo ich sei. Er schaut mich an. Wartet auf eine Erklärung. Mir wird heiß und kalt. Ich fühle mich wie ein kleines Mädchen, das man beim Flunkern ertappt. Ich kann meine Tränen kaum zurückhalten. Ich kann nichts sagen. Dguckt und guckt. Dann seufzt er, als wäre ich ein unartiges verstocktes Kind, und sagt, wenn ich mich dazu nicht äußern wolle, müsse er mich ersuchen, ihm in Zukunft vorzulegen, was ich in anderen Abteilungen zu besprechen hätte. Aber wir sind doch ein Haus der kurzen Wege und direkten Kommunikation, das predigen wir doch den anderen Firmen auch immer, will ich sagen, aber ich merke, dass mir die Tränen hochsteigen, ich kriege gerade noch ein Okay heraus und stürze hinaus.«
In Krimis fragen sie immer, ob das Opfer Feinde hatte. Till hatte zumindest ein Opfer. In soziologischen Studien heißt es, die Opfer töten ihren Peiniger nicht, sie fühlen sich vielmehr von ihm abhängig und verzehren sich nach Freundlichkeit und Wertschätzung. Wäre denn auch die Demütigung, sich zum kleinen Kind herabgestuft zu sehen, schon Grund genug für den finalen Akt des Tötens?
Und woher hätte Manuela von den Bonobos wissen sollen? Ich habe in ihren Notizen nichts gelesen, was darauf hindeutet, dass Till mit ihr über sein Verhältnis zu den Bonobos gesprochen hätte. Hatte er überhaupt noch ein Verhältnis zu ihnen?
Ich will nicht diejenige sein, die der Polizei von Manuela erzählt. Womöglich wäre ich die Einzige. Manuela hat sich niemandem anvertraut, weder der Frauenbeauftragten noch dem Betriebsrat. Sie hat sich zu sehr geschämt. Ihrer Ohnmacht, ihrer Weinerlichkeit, ihrer Schwäche diesem frechen jungen
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