Die Affen von Cannstatt (German Edition)
manchen U-Häftlingen bekommt er täglich flammende Briefe.
Haftbuch, Sonntag, 23. Juni
Noch neun Tage. Ich höre draußen die Disko wummern. Im Regelvollzug dürfen sie auch am Wochenende Besuch empfangen. Eigentlich ständig. Den ganzen Tag sitze ich bei offenem Fenster an der Spinne und höre die An- und Abfahrt der Autos auf dem Parkplatz jenseits der Mauer. Der Baum steht längst in sommerlichem Grün. Es ist lange her, dass er sich mir mit seinen satten großen Blättern als Ahorn offenbart hat. Seitdem ändert sich nichts mehr.
Morgens der Beamte mit einem Hund an der Mauer.
//Weber war noch mal hier, hat sich den USB-Speicher aushändigen lassen und mir einen neuen gegeben.\\ Nichts Neues bei der Suche nach dem Verkäufer des Buchs von Le Bon. Der Antiquar, der seinen Laden im Stuttgarter Westen hat, erinnert sich nur an eine Frau, die ihm Ende letzten Jahres drei Kisten mit Büchern gebracht hat. Er hat sie gar nicht nehmen wollen. Aber die Frau hat ihm schließlich genervt Geld gegeben dafür, dass er die Bücher nimmt. Eine Frau, Typ Referentin. Scheidungskrieg, hat er damals gedacht.
Haftbuch, Dienstag, 25. Juni
Meine Mutter packt. Jubelnd tanzt sie in der Hütte, als ich um drei nach der Arbeit zurückgeschlossen werde. Ich komme frei, ruft sie. Morgen ist Haftprüfung, dann müssen sie mich freilassen. Jetzt ist es raus. Ich habe die armen kleinen Dinger nicht umgebracht. Das habe ich schriftlich. Jetzt muss mir Dieter glauben. Alle müssen mir jetzt glauben.
Sie zeigt auf einen Brief, der auf dem Tisch liegt. Er ist von ihrem Anwalt und enthält einen Auszug aus einem rechtsmedizinischen Gutachten. Ich lese: »Der Fetus hat mit hoher Wahrscheinlichkeit eine fetale Erythroblastose (Morbus haemolyticus neonatorum) entwickelt.«
Und was heißt das genau? Ich würde gern mal schnell Yvonne anrufen und fragen. Sie hat ja Medizin studiert. Ich konzentriere mich noch mal neu. Soviel ich verstehe, ist bei der Mutter ein dd-Gen vorhanden, bei dem Erbmaterial des einzigen übrigen Säuglings liegt aber ein dD-Gen vor. Und dann folgt der Satz, dass der Fetus mit hoher Wahrscheinlichkeit eine schwere fetale … und so weiter entwickelt habe. Bei den drei anderen toten Kindern, deren Erbgut nicht mehr untersucht werden kann, lag – wie ich das verstehe – das Risiko bei fünfzig Prozent, dass sie ebenfalls letale Symptome entwickelten. Mithin könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie aufgrund derselben Faktoren ebenfalls tot geboren oder gleich nach der Geburt verstorben seien.
Also doch ein Gen-Defekt?
Meine Mutter nimmt es da nicht so genau. Ich hab ja immer gesagt, ich bin unschuldig, jubelt sie. Ich habe immer die Wahrheit gesagt.
Ihr Anwalt ist sich offenbar sicher, dass ihr bis zum Verfahren Haftverschonung gewährt wird, weil eine aktive Tötungshandlung unter diesen Umständen nicht mehr nachweisbar ist. Er fordert sie in seinem Brief auf, ihre Sachen zu packen und ihre Angelegenheiten in der JVA zu ordnen. Also packt sie, obwohl es nicht viel zu packen gibt. Aber wie soll sie ihre Sachen transportieren? Aufgeregt erörtert sie die Möglichkeiten. Ihr Anwalt wird vermutlich nicht an eine Reisetasche denken, und womöglich dürfte sie die auch gar nicht mit auf die Zelle nehmen. Ich weiß es nicht. Ich bin noch nie aus der Haft entlassen worden.
Jetzt schaut sie fern. Ich sitze am Tisch am Computer. Ich werde ihr einen Brief schreiben. »Liebe Mutter«, werde ich ihn beginnen. Dann werde ich ihr eröffnen, dass ich ihre Tochter bin.
Aber sie soll den Brief erst bekommen, wenn sie die JVA verlässt. Morgen früh schiebe ich ihn zwischen ihre Wäsche. Sie darf ihn nicht entdecken, wenn sie den Packen hochnimmt oder in eine Transportkiste tut. Und wenn sie ihre Sachen im Ausgang filzen, den Brief finden und sie ihn öffnen muss, dann kann sie schon nicht mehr zurück zu mir. Ich werde mich von ihr verabschiedet haben, bevor ich zur Arbeit rausgeschlossen werde. Wir werden uns umarmen. Ich werde ihr Glück wünschen.
Hoffentlich ist sie wirklich weg, wenn sie mich zurückschließen. Am besten wäre es, sie fände den Brief erst, wenn sie die Wäsche in die Waschmaschine steckt, um den Knastgeruch nach kaltem Zigarettenrauch, Schweiß und Küche herauszuwaschen.
Dann kann sie sich in Ruhe entscheiden, ob sie meine Mutter sein will oder nicht. Ich werde es daran merken, ob sie mich besuchen kommt. Sie weiß ja, wie sehr wir auf Besuch lauern. Sie muss an mich denken lernen, etwas auf sich nehmen
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