Die Affen von Cannstatt (German Edition)
säuerlicher Mann. Aber er hat sicher ein zweites Gesicht. Ich stelle mir vor, dass er privat witzig ist, gebildet, ein angenehmer Mensch. Über ihm hängt an der weißen Wand aus Eisendraht gebogen das Wappen von Baden-Württemberg mit den drei Stauferlöwen, beidseitig gehalten vom württembergischen Hirsch und dem badischen Greif. Ich studiere es, wenn ich nicht den Vorsitzenden Richter, die Schöffen (eine Frau darunter) und die beiden anderen Richter (ebenfalls eine davon eine Frau) anschaue und mir vorstelle, was sie draußen für Leben haben, ob Kinder und Probleme, welche Hobbys und Leidenschaften. Ich habe Zeit zu schauen. Es ist das Einzige, was ich tun kann, während die Verhandlung geruhsam ihren eigenen, oft undurchschaubaren Regeln folgt.
Staatsanwältin Meisner liest die Anklageschrift vor. Mein Prozess ist der erste, an dem ich teilnehme, und ich staune, wie schlecht die Staatsanwältin vorliest. Leiernd, stockend, sich verhaspelnd. Ich kann kaum folgen, gebe bald auf. Onkel Gerald hat mir eingeschärft, ich soll mich nicht aufregen. Ich höre die Worte »heimtückisch« und »aus niederen Beweggründen« und zwinge mich zur Distanz. Die redet nicht über mich. Ich bin nicht ich, sondern eine Statistin, die auf der Anklagebank sitzt. Eine unbedeutende Nebenrolle ohne Text.
Es ist alles falsch, alles verkehrt. Wie kann sie behaupten, ich hätte Till Deutschbein unter einem Vorwand in die Wilhelma gelockt, die wir über den Betriebshof unter Überwindung eines Tors betreten hätten? Nur weil man am Tor ein Papiertaschentuch mit Anhaftungen meiner DNS gefunden hat. Seit ich meine Akte kenne, frage ich mich, wo es herkommt. Ich war nicht erkältet an diesem Dezembertag, ich war ja auch gar nicht dort. Es ist Jahre her, dass ich über den Betriebshof der Wilhelma gegangen bin. Wie ich Meisner so höre, frage ich mich zum ersten Mal, ob mir vielleicht jemand was anhängen will oder wollte. Aber wer? Wer sollte mich so hassen, dass er oder sie so etwas tut? Ich habe keine Feinde. Dachte ich bisher.
Halb eins ist Mittagspause bis halb zwei. Ich versuche in der Vorführzelle meine Brote zu essen, schaffe aber nur die Hälfte. Ich hätte gern einen Kaffee, bekomme aber nur Wasser. Ich kann nicht mehr sitzen, stehe auf und gehe herum. Ich habe meinen Tabak vergessen.
Am Nachmittag schaue ich mir das Publikum an. Es kostet Überwindung, sich den bösen Gesichtern zu stellen. Manche senken den Blick, wenn ich sie anschaue, andere starren beharrlich zurück. Ich sehe auch Tills Eltern. Sie sind Nebenkläger, haben eine Anwältin dabei. Er schaut mich an, fast unbewegt, sie hält sich an seiner Hand fest und wagt nur hin und wieder einen Blick, so als könnte sie meinen Anblick nicht ertragen. Meine Mutter ist nicht gekommen. Meine Pflegeeltern sind auch nicht da. Sie haben sich brieflich entschuldigt, sie kämen vom Geschäft nicht weg. Aber ganz hinten entdecke ich Lisa Nerz.
Nachdem Meisner fertig ist, belehrt mich der Richter, dass ich die freie Wahl habe, ob ich mich zur Anklage äußern will oder nicht. Onkel Gerald verkündet, dass ich mich nicht äußere, dies aber vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt tun werde.
Abends im Fernsehen sehe ich mich. Kühl und abweisend nennen sie mich.
Haftbuch, 5. Juli
Am zweiten Tag ist Hauptkommissar Christoph Weininger im Zeugenstand und schildert die Ermittlungen. Auffindung der Leiche, Spurenlage, Sicherstellung der Beweismittel, Zeugenbefragungen. Alles in seltsamem Deutsch und langatmig. Immer wieder fragt der Vorsitzende Richter, manchmal auch ein Beisitzer nach.
Die Polizei hat auf Tills Laptop ein Foto gefunden, das mich in eindeutig privater Situation zeigt, genauer nackt im Bett. Das hat, behauptet Weininger, mich alsbald in den Fokus der Ermittlungen gerückt, zumal ich bei der Zeugenbefragung am Montag mein privates Verhältnis zum Geschädigten verschwiegen habe. Seinen Datumsangaben zufolge war das zwei Tage, bevor Lisa bei mir in der Wohnung war.
Ich glaube das nicht. Sie haben geschlampt und sind erst von Lisa auf mich gebracht worden. Einer nackten Frau im Bett sieht man ja nicht an, wie sie heißt, und Till hat seine Fotos von mir sicher nicht mit meinem Vor- und Zunamen beschriftet.
Anschließend legt Weininger die Ergebnisse der Spurensuche in meiner Wohnung dar. Er räumt ein, Blut vom Opfer sei weder an meiner Kleidung noch meinen Schuhen gefunden worden, und deutet an, ich könnte mich der Sachen entledigt haben. Reine Vermutung,
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