Die Affen von Cannstatt (German Edition)
für mich. Sie muss sich auf den weiten Weg machen von Amtzell am Bodensee nach Schwäbisch Gmünd nur für die eine halbe Stunde Besuchszeit. Sie muss sich herausbewegen aus der Gemütlichkeit des Lebens mit ihrem Mann, von dem sie sicher glaubt, dass er sie wieder aufnehmen wird, jetzt, wo alles geklärt und sie erwiesenermaßen unschuldig ist.
Haftbuch, Donnerstag, 27. Juni
Meine Mutter ist fort, mit meinem Brief, und ich bin wieder umgezogen in eine Einzelzelle, pinkfarbene Tür. Fast eine Nebensache. Denn ich bin vor allem wütend, ganz furchtbar wütend auf meine Mutter. Alle Gedanken umsonst, mein ständiges Umschauen nach ihrem abscheulichen Schatten, das Mitleid der anderen, meine abgrundtiefe Scham. Ich bin nicht die Tochter einer Kindsmörderin. Ätsch-bätsch. Sie ist einfach nur eine verantwortungslose Schlampe.
Wenigstens sehe ich den Baum, auch von diesem Fenster aus.
Erst heute früh beim Hofgang habe ich Yvonne befragen können. Ich habe ihr die Worte aus dem Brief aufgesagt: fetale Erythroblastose, Morbus haemolyticus neonatorum.
Das Rhesussystem. Sie lacht. Da hätte ich auch drauf kommen können. Sie fragt mich, was ich denn für einen Rhesusfaktor habe. Ich weiß es gar nicht.
Das solltest du unbedingt wissen, bevor du schwanger wirst, sagt sie. Ich wette, du hast negativ, wie deine Mutter und wie etwa fünfzehn Prozent der Menschen in unseren Breiten. Und wenn der Fötus Rhesus-positiv ist, kann es gefährlich werden.
Ich erinnere mich dunkel an meinen Biologieunterricht.
Yvonne erklärt es mir. Es handelt sich um bestimmte Eiweiße auf den roten Blutkörperchen. Rhesus-Positive haben ein Eiweiß, das man D-Antigen nennt. Es löst eine heftige Immunreaktion bei den Müttern aus, die Rh-negativ sind. Das Immunsystem der Mutter zerstört die roten Blutkörperchen des Babys. Es stirbt entweder im Mutterleib oder gleich nach der Geburt. Beim ersten Kind spielt das meist noch keine Rolle, erklärt mir Yvonne. Die Blutkreisläufe von Mutter und Kind sind normalerweise getrennt. Doch sobald die Mutter mit Rh-positivem Blut in Berührung kommt, etwa bei der Geburt, fängt sie an, Antikörper zu bilden. Yvonne vermutet, dass meine Mutter schon vor der Geburt ihres ersten Babys mit Rh-positivem Blut in Berührung gekommen ist. Über verunreinigte Spritzen zum Beispiel.
Wenn eine Schwangerschaft vom Arzt begleitet wird, ist das heute beherrschbar. Man überprüft das bereits bei der ersten Schwangerschaft und gibt der Mutter das Anti-D-Immunglobulin. Es zerstört die fremden Rhesus-positiven Blutkörperchen in ihrem eigenen Blut und verhindert, dass sie ihrerseits Antikörper entwickelt.
Und wenn schon alles zu spät ist?, frage ich.
Dann muss man nach der Geburt beim Baby sofort das ganze Blut durch Spenderblut austauschen, sagt Yvonne. Falls es nicht schon vorher gestorben ist.
Also habe ich nur überlebt, weil ich Rh-negativ bin. Yvonne vermutet, dass mein Vater, der Holländer aus dem Neckarhafen, ebenfalls Rh-negativ war. Wäre meine Mutter mit ihren Schwangerschaften zum Arzt gegangen, hätten meine vier Geschwister eine Chance gehabt, ihre Geburten zu überleben. So wie die Kinder, die sie später mit Dieter bekommen hat. Hätte es da nicht eigentlich auch Probleme geben müssen?, frage ich Yvonne.
Nicht, wenn die Söhne Rh-negativ sind und demzufolge auch der Vater. Andernfalls hätten die Babys während der Schwangerschaft und danach erhebliche gesundheitliche Probleme gehabt, mindestens Gelbsucht.
Davon hat meine Mutter nichts erzählt. Jetzt kann ich sie nicht mehr fragen. Vielleicht nie.
Muss so viel Dummheit nicht auch bestraft werden? Ist es nicht auch fahrlässige Tötung, wenn man seinen Kindern die medizinischen Möglichkeiten vorenthält, aus Ahnungslosigkeit, Faulheit oder Angst?
Oder will ich mir meine Mutter wieder schuldig reden? Weil ich mich in einem Leben als Tochter einer feigen und monströsen Kindsmörderin besser auskenne als in dem Leben der Tochter einer dummen und trägen Frau.
Haftbuch, Freitag, 28. Juni
Jetzt ist auch Yvonne weg. Ganz plötzlich. Sie hat ihren Beschluss bekommen: Revision abgewiesen. Ich konnte mich nicht von ihr verabschieden. Beim Hofgang wussten wir noch nichts. Beim Versorgungsaufschluss am Abend habe ich sie schon nicht mehr gesehen. Aber die Hausarbeiterin hat mir mit dem Streichkäse eine Notiz von Yvonne zugesteckt. Sie ist in den Regelvollzug umgezogen. Ich werde sie erst wiedersehen, wenn auch ich verurteilt worden bin.
Noch vier
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