Die Affen von Cannstatt (German Edition)
Tage.
Haftbuch, Montag, 1. Juli
Ich möchte mich hinlegen und die Decke übern Kopf ziehen und nie wieder aufstehen. Man hat mich aus dem Arbeitsdienst rausgenommen, wegen des Prozesses. Zwei Verhandlungstage pro Woche, Dienstag und Donnerstag. Morgen geht es los.
Ich wollte, dass Onkel Gerald mir ein Kostüm bringt, ich will mich gut anziehen. Aber er hat mir abgeraten. Zu viel Schick bedeutet schlechte Presse. Ich soll auch meine Haare nicht hochstecken. Ganz natürlich, sagt er, alles ganz natürlich und bescheiden. Und auf keinen Fall Schwarz, sonst schreiben sie sofort: die schwarze Witwe.
Ich mache mir vor meinem Prozess mehr Gedanken darüber, was ich anziehe, als über das, was er für mich bedeutet. Kann das sein? Kann das Urteil von meiner Frisur oder meinen Kleidern abhängen?
2. Juli
Der erste Prozesstag ist vorbei. Ich sitze wieder auf meiner Zelle, als hätte ich sie nie verlassen. Zurückgefallen in die gemütliche Ereignislosigkeit. Heimgekommen. Geborgen zwischen Bett und Tisch, Tür und Fenstergitter. Der Baum ruht in sich.
Die Füße tun mir weh. Ich habe zum ersten Mal seit Monaten wieder feste Lederschuhe angehabt, Pumps, die meine Pflegemutter gekauft hat. Morgens im Spind in der Kammer, wo ich mich umziehen durfte, hingen außerdem dunkelbeigefarbene Hosen, eine beigefarbene Hemdbluse und eine blaue Strickjacke. Bieder. Auch von meiner Pflegemutter gekauft. Heute Abend habe ich sie dort zurücklassen müssen. Wenn ich etwas anderes anziehen will, muss ich es zwei Tage vorher der Abteilungsbeamtin übergeben (es wird gefilzt, damit ich nichts rausschmuggle) und finde es dann am Prozesstag morgens im Spind vor.
Mittwoch, 3. Juli
Die Nacht habe ich seit langem mal wieder tief geschlafen. Morgen geht es weiter. Ich giere danach und bin gleichzeitig jetzt schon erschöpft vor Anspannung und … Langeweile. Ja, es ist ungeheuer langweilig und mühsam, obwohl es um mich geht. Auf die Fahrt nach Stuttgart hatte ich mich gefreut – Welt sehen, Straßenverkehr, Autos, Leute, Hunde, Kinder –, aber dann führte man mich zu einem dieser geschlossenen Wagen. Versorgt mit einem Lunchpaket wie zum Wandertag.
Ich weiß, dass ich am Landgericht in der Urbanstraße aussteige, an die Hand einer Beamtin geschlossen, aber ich sehe kaum mehr als die Eingangstür. Schnell sauge ich Stadtgerüche auf, Abgase, Duftspuren eines Bäckerladens. Ich werde in die Vorführabteilung gebracht. Nagelneu, sauber. Sie schließen mich in eine Zelle. Ich bekomme einen Plastikbecher mit Wasser und warte. Kaffee wäre schön. Von grünem Tee rede ich gar nicht. (Ich habe nie Kaffee bekommen bei all der Warterei.) Dann schließt man mich wieder raus. Hinter einer Trennscheibe steht Onkel Gerald in schwarzer Robe mit weißer Krawatte, eine furchteinflößende bärtige Erscheinung, ein Neptun. Er schimpft. Die Trennscheibe, die müssen die wieder wegmachen, sagt er. Wir müssen uns anschreien.
Er warnt mich. Es ist viel Publikum da und viel Presse. Sie dürfen mich fotografieren, bevor der Prozess beginnt. Ich könnte, wenn ich will, mein Gesicht verbergen. Er bietet mir einen dieser albernen Pappdeckel an. Aber sie kennen dein Gesicht sowieso. Er kann die Beamten überzeugen, mich nicht in Handschellen in den Saal zu führen. Wir stehen hinter der Anklagebank, und die Fotografen hüpfen vor uns herum, geduckt. Eine Fernsehkamera ist auch da. Ich sehe Massen von Menschen auf Stühlen, ernste Gesichter. Als ob jeder ganz persönlich mit mir abrechnen wollte. Dennoch fühle ich mich wie ein Mensch unter Menschen. Nicht gerade frei, aber auch nicht gefangener als all die anderen in ihren Verpflichtungen und Aufgaben, Wünschen und Behinderungen. Und alle geruchlos.
Ich komme gar nicht dazu, mich zu orientieren, denn schon führt man mich wieder in die Vorführabteilung hinunter und schließt mich auf meiner Zelle ein. Onkel Gerald hat einen Befangenheitsantrag gegen einen der Richter gestellt, und das Gericht hat sich zur Beratung zurückgezogen. Ich überlege, ob ich meine Brote jetzt schon essen soll. Plötzlich habe ich Hunger. Doch dann habe ich später nichts, wenn sie Mittag machen. Ich kann mir nicht schlüssig werden. Ich packe die Brote aus, doch plötzlich hebt sich mir der Magen. Werde ich je wieder etwas essen können, ohne es mir reinzuzwingen?
Kurz vor Mittag holt man mich wieder hoch. Alle sitzen an ihren Plätzen. Ich kann mir mein Schicksal angucken. Ausführlich. Der Vorsitzende Richter ist ein schmaler
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