Die Affen von Cannstatt (German Edition)
was ich in Tills Büro gesehen haben mag. Als könnte das meine Rettung sein. Ich versuche den Raum an die Zellenwand zu projizieren. Aber ich sehe nichts. Ich bin irgendwie auf dem falschen Trip. Zu ungeduldig. Haft macht blöd.
Und wie hieß eigentlich Tills Frau, die sich nach Australien abgesetzt hat nach nur einem Jahr Ehe und noch vor der Geburt der Tochter? Ich kann mich nicht erinnern. Ich kann es auch nicht herausfinden. Ich kann niemanden anrufen, nicht im Internet herumsuchen, niemandem schreiben, denn alles, was mit meinem Verfahren zu tun hat, würde im Brief geschwärzt.
Dienstag, 18. Juni
Sie heißt Brigitte Crawson, informiert mich Onkel Gerald. Aber sie befand sich zur Tatzeit auf ihrer Farm bei Longreach in Queensland. Das haben die australischen Behörden überprüft.
Noch eine Hoffnung, die sich zerschlägt. An ihre Stelle setzt sich Müdigkeit. Warum hat sie sich eigentlich von ihm getrennt? Weiß man das?
Onkel Gerald weiß es nicht und sieht auch nicht, was Brigitte Crawson meiner Verteidigung nützen könnte. Auch der Nachweis – falls er denn gelänge –, dass Till sich dieser Frau gegenüber in irgendeiner Weise ungebührlich verhalten hat, trüge letztlich nichts zur Entkräftung der Beweise gegen mich bei, welche die Staatsanwaltschaft vorlegen kann.
Aber man muss doch was tun! In vierzehn Tagen beginnt der Prozess. Ich höre mich zeterig an. Ich klinge nicht mehr vernünftig.
Haftbuch, 19. Juni
Ich hätte Brigitte Crawson eine E-Mail geschrieben. Von Ex zu Ex. Und was war es bei dir?, hätte ich sie gefragt. Bei mir war es letztlich das Gefühl, bei Tills politischen Ansprüchen und Projekten nicht mithalten zu können. Und der Schatten meiner Mutter.
Ein Leben im Kloster mit Stacheldrahtkronen und nächtlichem Flutlicht ist machbar. Aber an die unsichtbare Mauer gewöhne ich mich nicht. Nicht mehr rankommen an Informationen, nicht mehr hinkommen zu anderen per Mail oder Facebook. Nur Briefe, teils geschwärzt, Zeitungen, Radio. Alles nicht für mich gemacht. Die da draußen schwärmen von Ausflugszielen und geben Reisetipps. Sie kommen über Radio und Fernsehen zu mir herein. Sie behaupten, soziale Netzwerke und Internet seien der Untergang des sozialen Lebens. Untergang geht anders. Es geht um mein Leben, meine Zukunft, und ich kann nichts tun, um mich zu retten.
Versteht denn niemand diesen Wahnsinn?
Wenn ich Briefe von Filiz lese, spüre ich, dass sie meinem Kopfkreisel nicht folgen kann. Natürlich ist es schlimm, nicht entscheiden zu können, wohin man abends zusammen einen Hugo trinken geht. Aber du kannst dich doch beschäftigen, lesen, fernsehen, schreiben. Denk daran, in türkischen Gefängnissen oder anderswo, da wird noch gefoltert.
Im Fernsehen habe ich einen Bericht über Untersuchungshaftanstalten in der DDR gesehen. Der Beschuldigte wurde wie ein Verurteilter behandelt, sagen sie laut tönend und vorwurfsvoll. Stundenlange Nachtverhöre, Schlafentzug, Isolationshaft bei vierundzwanzig Stunden Licht, mit Wasser abspritzen, Drohungen. Die Isolationszellen besaßen keine Fenster, nur Glasbausteine. Tagsüber durfte sich der Gefangene nicht hinlegen, nur sitzen oder stehen, nichts lesen. Ständig wurde er durch den Spion kontrolliert. Nachts wurde zu diesem Zweck alle zwanzig Minuten das Licht angemacht. Es ging darum, das Selbstbewusstsein des Verhafteten zu zerstören, ihn seine Ohnmacht spüren zu lassen, einen Prozess der Dekompensation einzuleiten, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Die Verhaftung geschah in der Regel völlig unerwartet. Sie sollte die Person in einen schockartigen Zustand versetzen. Die Durchsuchung des Häftlings bei der Einlieferung, wobei er sich nackt ausziehen musste und sämtliche Körperöffnungen kontrolliert wurden, sollte ihm sein Ausgeliefertsein demonstrieren. Er sollte sich ausgeliefert fühlen. Außerdem wurde ihm sein gesamtes Eigentum abgenommen. In dem Film sagen sie: Der Häftling sollte seiner Menschenwürde beraubt werden.
Haftbuch, Freitag, 21. Juni
Meine Pflegemutter ist wieder nicht gekommen, und meine Mutter schwimmt in Tränen. Dieter hat sie nun also verlassen. Sein Brief ist von ihrem Bett auf den Boden gerutscht. Ich soll ihn lesen, sagt sie, ich soll ihr sagen, ob das wirklich wahr ist. Nicht einmal persönlich hat er es ihr sagen können, schreibt einen Brief.
Ich stelle mir vor, wie ein Mann im Besuchsraum unter den Augen und Ohren einer Aufsichtsbeamtin mit seiner inhaftierten Frau Schluss macht. Das ist
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