Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Die Affen von Cannstatt (German Edition)

Titel: Die Affen von Cannstatt (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christine Lehmann
Vom Netzwerk:
erst recht beschämend. Womöglich wäre ihr dann ein Brief gnädiger vorgekommen. Wenn ich lebenslänglich kriege, werde ich ein Handbuch schreiben: Die sieben Wege, sich von Freund/Freundin im Knast zu trennen. Immerhin hat Dieter noch geschrieben. Er ist nicht einfach weggeblieben.
    Ich lese die ungelenke Handschrift eines Schreinermeisters und die noch ungelenkeren Worte. Er will alles tun, damit sie bald rauskommt, den besten Anwalt bezahlen und all das. Aber sie möchte bitte nicht nach Hause zurückkommen. Offenbar habe er die Frau gar nicht gekannt, mit der er zweiundzwanzig Jahre unter einem Dach gelebt und zwei Söhne hat. Er will ihr gern glauben, dass sie diesen vier armen Kindlein nichts zuleide getan hat, aber er weiß nicht mehr, ob er ihr vertrauen kann. Er wisse überhaupt nicht mehr, was er von der Person denken soll, die ihm so einschneidende Erlebnisse ihrer Vergangenheit verschwiegen und so scheinheilig die normale Ehefrau gespielt hat, vor ihm, vor seinen Söhnen und vor allen Freunden im Ort.
    Er schämt sich, erkläre ich meiner Mutter. Von Scham verstehe ich was. Dein Dieter muss weiterleben unter euren Freunden und Bekannten in Amtzell. Die haben keinen Grund, von deiner Unschuld auszugehen. Die zerfetzen sich lieber das Maul. Die wollen jetzt alle gewusst haben, dass mit dir was nicht stimmte. Sie genießen es, sich zu gruseln. Und dein Mann steht dumm da. Er muss sich von dir distanzieren.
    Aber ich habe doch gar nichts getan!, schreit sie.
    Du hast vier Kinder in aller Heimlichkeit in einer Kleingartenanlage am Friedhofsgebüsch eingebuddelt, sage ich.
    Aber was hätte ich denn tun sollen?
    Einen Arzt rufen, antworte ich. Damit er den Tod des Kindes feststellt und den Totenschein ausstellt. Das ist so üblich. Wenn nötig, ordnet er eine Obduktion an. Wenn alles so war, wie du sagst, hättest du ja nichts zu befürchten gehabt und säßest jetzt nicht hier.
    Aber woher hätte ich das denn wissen sollen? Ich habe mich doch gar nicht mit Polizei und all dem ausgekannt.
    Frauen befinden sich nach der Geburt in einem Ausnahmezustand, habe ich vor langer Zeit mal gelesen. Sie sind euphorisiert und erschöpft von den Schmerzen der Geburt und der ungeheuren körperlichen Leistung. Sie befinden sich in einem Tunnel, sehen die Welt nicht mehr, nur sich und das Kleine. Sie kennen weder Vater noch Mutter noch Gesetze. Sie sind Kämpferinnen, sie würden ihr Kleines jederzeit gegen Löwen verteidigen. Zugleich sind sie wehleidig und depressiv. In diesem getunnelten Zustand tun sie Dinge, die sie später nicht mehr erklären können. Zum Beispiel töten sie ihr Kind, beseitigen es und die Nachgeburt, reinigen Bad und Klo und backen einen Kuchen.
    Ich habe Yvonne erzählt, dass ich mit meiner Mutter auf der Hütte sitze, dass sie als Kindsmörderin gilt und ihr Schatten auf meiner Kindheit und Jugend lag.
    Yvonne meint, ich müsse meiner Mutter sagen, dass ich ihre Tochter bin. Wir streiten sogar. Ich finde, meine Mutter hat mich nicht verdient. Ihr ganzes Leben hat sie sich nicht um mich gekümmert, davongelaufen ist sie, als das Jugendamt mich holte. Sie ist doch selbst im Heim aufgewachsen, sie weiß, wie das ist. Sie konnte nicht wissen, dass ich in eine gute bürgerliche Familie komme.
    Yvonne ist der Meinung, dass man gegen das Blut nicht rebellieren kann. Niemand kann sich Mutter und Vater aussuchen, und sie bleiben immer die eigenen Eltern, egal, was sie anstellen oder was man selbst anstellt.
    Du musst dich mit ihr aussprechen, sagt Yvonne, sonst wirst du es den Rest deines Lebens bereuen.
    Vielleicht will ich mir meine Mutter aber erst einmal vom Leib halten. So wie sie mich vierundzwanzig Jahre lang von sich weggehalten hat. Vielleicht will ich ihre Bitten um Entschuldigung nicht hören, noch weniger all die Rechtfertigungen.
Haftbuch, Samstag, 22. Juni
    Noch zehn Tage.
    Rabia hat ihr Urteil bekommen. Zweieinhalb Jahre. Die U-Haft wird angerechnet. Wenn sie nach zwei Dritteln Bewährung kriegt, kann sie in einem Jahr in die Drogenklinik umziehen und danach nach Hause.
    Ich lese zum x-ten Mal in meiner Ermittlungsakte. Drei Ordner. Immer noch entdecke ich Fehler. Stress pur. Ich hatte zum Beispiel nie wechselnde Beziehungen. Und es war nicht Till, der mit mir Schluss gemacht hat. Das behauptet seine Mutter. Ich habe ihn auch nicht gebeten, mir die Stelle bei Peofis zu besorgen. Er hat sie mir angeboten. Ich mache Notizen für Onkel Gerald. Er hat mich aber gebeten, ihm nicht zu schreiben. Von

Weitere Kostenlose Bücher