Die Ahnen von Avalon
beiseite schob, kam eine Seitenpforte zum Vorschein. Sie ließ sich leicht öffnen; mehr Mühe machte es, sie hinter sich wieder zu schließen.
Er betrat einen schmalen, dunklen Korridor, von dem viele Türen abgingen, die alle gleich aussahen. In den Boden war eine Linie aus schwach leuchtenden Steinen eingelassen, die ihm den Weg wies. So kam er zügig voran. Ehe er sich's versah, war er am Ende angelangt und stieß sich den Kopf an dem niedrigen Steinbogen.
Ich werde allmählich doch zu alt für solche Abkürzungen, dachte der Magier und rieb sich die schmerzende Stirn. Durch den Haupteingang wäre ich wahrscheinlich schneller ans Ziel gelangt.
Hinter dem Bogen befand sich ein kleiner Raum mit gewölbter Decke. Hier führte eine Wendeltreppe mit leuchtenden Stufen nach oben. Chedan stieg vorsichtig zwei Stockwerke hinauf, trat durch einen zweiten Bogen und stand endlich in einem großen, pyramidenförmigen Saal, der fast den ganzen oberen Teil des Gebäudes einnahm. Es war der Lesesaal der Bibliothek. Obwohl er so gebaut war, dass er möglichst viel Tageslicht einfing, lag er um diese Zeit fast völlig im Schatten. Nur vereinzelt brannten ein paar Leselampen.
Im Schein einer solchen Lampe saß der Heilige Hüter Ardral allein an einem großen Tisch und untersuchte den Inhalt einer hölzernen Truhe. Chedan trat näher. Die Tischplatte verschwand fast völlig unter zerschlissenen Schriftrollen, Bruchstücken beschrifteter Steintäfelchen und seltsamen bunten Perlenschnüren.
Ardrals Aufmerksamkeit galt jedoch ausschließlich dem Herzstück der Sammlung, einem ungewöhnlich langen, schmalen Buch aus Bambusstreifen, die mit Seidenfäden zusammengeheftet waren.
Chedan versuchte zunächst, sich taktvoll bemerkbar zu machen. »Ich wusste gar nicht, dass der Virnana-Kodex jetzt hier bei euch liegt«, sagte er, doch Ardral ließ sich nicht stören.
Der Magier schnitt eine Grimasse, dann zog er sich mit viel Lärm eine kleine Bank heran und setzte sich neben ihn.
»Ich kann warten«, verkündete er.
Ardral hob den Kopf und lächelte über das ganze Gesicht. »Chedan«, sagte er leise, »mit dir hätte ich wirklich noch nicht gerechnet…«
»Ich weiß.« Chedan wandte den Blick ab. »Ich hätte besser noch warten sollen, aber ich komme eben aus der Ratssitzung.«
»Du Ärmster«, unterbrach Ardral. »Ich hoffe, es ist mir gelungen, jedem so viel mitzugeben, wie er wissen musste.«
»Ich hatte tatsächlich das Gefühl, deine Handschrift zu erkennen«, warf Chedan ein.
»Doch ich hätte es einfach nicht ertragen, mir die unvermeidlichen Banalitäten noch einmal anzuhören.«
»Und davon gab es mehr als genug. Sie haben Angst«, meinte Chedan.
Ardral verdrehte die Augen. »Vielleicht, weil sie lieber nicht wissen wollen, warum sie immer noch nicht bereit sind? Die Katastrophe ist seit langem abzusehen, Neffe. Und es kommt genauso, wie Rajasta es vorhersagte - nur den Zeitpunkt hat er leider nicht exakt getroffen. Und die meisten Menschen, seien es Priester oder Bauern, können beim besten Willen nicht Jahr für Jahr unverdrossen weiter nach einem Ausweg aus einer Zwangslage suchen, die dann nicht zum erwarteten Zeitpunkt eintritt. Der Wunsch, in den Alltag zurückzukehren…« Ardral brach ab. »Du siehst ja, auch ich gebe ihm nach. Und wenn wir gerade dabei sind, ich habe etwas für dich aufbewahrt, wovon du einmal sehr angetan warst. Vielleicht könnten wir die Probleme der Welt ja auch im stillen Kämmerlein lösen?«
»Ich…« Chedan blinzelte und warf einen Blick durch den halbdunklen Raum. Wenn er seinen Onkel so ansah, fühlte er sich plötzlich wieder sehr jung. »Gern«, lachte er und strahlte über das ganze Gesicht. »Ich danke dir, Onkel.«
»So gefällst du mir«, lobte Ardral und stand auf, um das seltsame Buch in die Truhe zurückzulegen. »Wer will uns verbieten, das Leben noch ein wenig zu genießen, bevor der nächste Tanz beginnt…« Er verschloss die Truhe und zwinkerte Chedan zu. »…und die Ewigkeit uns auf die Zehen tritt.«
Bei Chedans letztem Besuch hatte Ardral noch in einem Wohnheim unweit des Tempels gehaust, doch seit er Kustos war, bewohnte er ein geräumiges Zimmer in den Mauern der Bibliothek.
Als die beiden eintraten, loderte im Kamin ein Feuer auf; vielleicht hatte es auch schon vorher gebrannt. Chedan sah sich die wenigen, aber geschmackvollen Möbelstücke an, während Ardral zwei reich verzierte Silberbecher auf den Tisch stellte und einen schwarzgelben Krug mit
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