Die Ahnen von Avalon
»Aber das Trinken lasse ich besser bleiben. Mir ist ziemlich flau. Kein Wunder… ich war noch nie ein Freund der Seefahrt.«
»Nicht auf den Horizont sehen, das hilft«, riet Chedan. »Schaut darüber hinaus - mit der Zeit werdet Ihr Euch daran gewöhnen. Und es ist besser, etwas im Magen zu haben, ob Ihr es glaubt oder nicht.«
Sie war nicht überzeugt, aber dennoch nahm sie die Schale entgegen und trank brav einen Schluck. »Ich habe Euch vorhin mit Iriel reden hören«, sagte sie sachlich. »Wie hoch sind die Verluste denn nun tatsächlich?«
»Alles in allem hatten wir noch Glück. Zwei oder drei Leute gingen über Bord, als die Welle uns traf, aber nur Alammos konnte nicht geborgen werden. Er war Bibliotheksaufseher. Ich kannte ihn nicht besonders gut, aber…« Seine Stimme schwankte, doch er beherrschte sich eisern. »Fünf von den Priesterschülern haben es auf dieses Schiff geschafft. Wir können nur hoffen, dass die anderen bei Micail sind. Auch einige Priester aus anderen Orden sind hier - Liala hat sie alle so weit untergebracht. Mehr Schwierigkeiten macht uns die Besatzung. Die Leute stammen zum überwiegenden Teil von Alkonath und sind ungemein stolz auf ihre Herkunft. Erst vorhin musste Reidel einschreiten, um einen Faustkampf zu beenden.« Chedan bemerkte ihren besorgten Gesichtsausdruck und beobachtete sie scharf, während er fortfuhr.
»Wenn man allerdings bedenkt, welche Schwierigkeiten durch den Bruch des Großmasts entstehen, können wir froh sein, dass die Purpurschlange über eine gut ausgebildete Besatzung verfügt. Denn mangelnde Erfahrung mit dem Meer ist etwas, das Priester und Stadtbewohner gemein haben - wir sind allesamt Landratten, aber wenigstens sind die meisten jung und einigermaßen bei Kräften. Nein, es könnte wirklich alles sehr viel schlimmer sein.«
Tiriki nickte. Sie hatte ihre Gelassenheit zurückgewonnen. Chedan konnte nur hoffen, ebenso viel Ruhe auszustrahlen. Innerlich mochten sie beide bittere Tränen weinen, aber um der Menschen willen, die immer noch zu ihnen aufschauten, mussten sie unerschütterliche Zuversicht verbreiten.
Chedan hob den Kopf und sah, wie Reidel sich einen Weg durch die Trümmer auf dem Deck suchte.
»Warum ist das noch nicht verstaut?«, brummte der Kapitän aufgebracht und runzelte die Stirn. »Sobald der Mast aufgerichtet ist… Ich bitte um Vergebung.«
»Keine Ursache«, versicherte ihm Tiriki. »Ihr habt Euch vor allem anderen darum zu kümmern, dass das Schiff wieder seetüchtig wird. Uns fehlt es weiter an nichts.«
Er sah sie überrascht an, und sie fand ihn wie schon öfter für sein Alter ungewöhnlich ernst. »Mit allem schuldigen Respekt, Herrin, ich hatte nicht Euch um Vergebung gebeten. Aber diese Unordnung auf einem Schiff - mein Vater würde sagen, das bringt Unglück.«
Tiriki war rot geworden, und als Reidel das sah, schüttelte er den Kopf und lachte.
»Nun habe ich Euch noch einmal gekränkt, obwohl das nicht in meiner Absicht lag. Wir müssen wohl erst noch lernen, richtig miteinander umzugehen.«
»Ach übrigens…«, Chedan wechselte das Thema, um den beiden über die Verlegenheit hinwegzuhelfen, »… könnt Ihr uns sagen, wo wir ungefähr sind?«
»Ja und nein.« Reidel kramte in einem Beutel, den er am Gürtel trug, und zog einen trüben Kristallstab von der Dicke seines Zeigefingers heraus. »Dieses Instrument fängt das Licht der Sonne auch bei Nebel ein und zeigt uns ziemlich genau, wo sie am Himmel steht, und damit können wir in etwa feststellen, wie weit wir nach Norden oder Süden gesegelt sind. Was die Ost-West-Richtung angeht… nun, da müssen wir abwarten, bis der Sternenbildner geruht, sich uns zu zeigen. Bisher tut er uns den Gefallen noch nicht.« Er steckte den Kristall in den Beutel zurück. »Als wir in See stachen, hatten wir Proviant für einen Monat an Bord, das müsste ausreichen. Sollten wir jedoch Gelegenheit finden, irgendwo an Land zu gehen, so könnte es nicht schaden, die Vorräte aufzufüllen. Immer vorausgesetzt, der Mast…« Er verstummte, drehte sich um und sah zu seinen Matrosen hinüber.
»Aber sind wir denn nun auf Kurs zu den Hesperiden?«, platzte Tiriki heraus. »Ich weiß«, fuhr sie etwas ruhiger fort, »dass sich viele Flüchtlinge von den Inseln Tarisseda und Mormallor auf den Weg nach Khem gemacht haben, wo das alte Wissen seit langem willkommen ist. Andere wollten wohl die Länder im Westen jenseits des großen Meeres ansteuern. Aber… Micail und ich, wir hatten
Weitere Kostenlose Bücher