Die Ahnen von Avalon
davon gesprochen, den König um Erlaubnis zu einem Besuch des Standorts zu bitten, den sie mit ihren Berechnungen ermittelt hatten, um dort vielleicht ihren Tempel zu bauen. Was trieb Tjalan da für ein Spiel?
»Die Männer meines Volkes verfügen über große Macht«, fuhr der Prinz fort, »doch wie Ihr bereits bemerktet, ist unsere Zahl derzeit gering. Ihr dagegen seid viele, und wenn wir uns zusammentun, werdet Ihr… an Größe gewinnen. Das Volk der Stiere wird dieses Land für immer beherrschen.«
Der Schamane flüsterte dem König etwas ins Ohr. Khattar kniff misstrauisch die Augen zusammen und befingerte seinen Bart.
Micail wandte den Blick nicht von den beiden und umklammerte dabei, ohne es zu merken, krampfhaft seinen Becher. Als er ihn abstellte, hatte sich das Schnurmuster in seine Handfläche eingedrückt.
»Ihr macht mir ein Angebot, aber wo liegt der Vorteil für Euch?«, fragte endlich Khattar.
Tjalan sah ihn mit entwaffnender Offenheit an. Micail kannte diesen Gesichtsausdruck. Wenn sie als Kinder das Federspiel gespielt hatten, hatte er ihm gewöhnlich verraten, dass der Alkonier im Begriff war, einen entscheidenden, möglicherweise auch hinterhältigen Zug zu machen.
»Das Seereich ist nicht mehr. Wir brauchen einen Ort, an dem sich unsere Künste entfalten können. Wir brauchen eine Heimat…«
»Drochrad kann Geister beschwören und die Herzen der Menschen lenken«, bemerkte Khattar viel sagend. »Aber nur Menschenschweiß kann Steine bewegen.«
»Oder Menschengesang…«, sagte Tjalan leise und drehte sich zu Ardral und Micail um. »Um große Gegenstände zu bewegen, braucht man einen magischen Chor, bei dem alle Stimmlagen besetzt sind, aber unsere mächtigsten Priester können auch allein wirken. Wollt Ihr ihnen zeigen, meine Freunde, was die Macht von Atlantis vermag?«
Jetzt galt ihnen dieses gewinnende Lächeln. Micail sah seinen Freund empört an, aber sein Zorn verrauchte, als er Ardral leise lachen hörte.
»Warum nicht?«, sagte der Siebente Hüter, trank dem König zu und lehrte seinen Becher auf einen Zug. Dann wandte er sich an Micail und flüsterte: »Jetzt wäre eigentlich der alte Stier an der Reihe, nicht wahr?« Ohne eine Antwort abzuwarten, fasste er den goldenen Becher ins Auge und begann zu singen.
Ardral besaß trotz seines Alters einen tiefen und vollen Bariton und verstand seine Stimme auch ohne Worte sehr präzise tönen zu lassen. Der goldene Becher begann in der Hand des Königs zu zittern. Khattar stellte ihn hastig ab. Ardral forderte Micail mit einem stummen Blick auf, sich an dem Spiel zu beteiligen.
Sei's drum, dachte er plötzlich. Wie kommen diese Barbaren dazu, den Nachkommen von hundert Königen zu verhöhnen? Er holte tief Atem und sang mit gleicher Präzision einen zweiten Ton, eine halbe Note höher als Ardral, aber auf dasselbe Ziel gerichtet. Der Becher tanzte klirrend auf dem Holztisch hin und her - dann stieg er empor, schwebte in der Luft, drehte sich langsam um die eigene Achse, sank endlich ebenso gemächlich wieder herab und kam neben der zitternden Hand des Großkönigs zum Stehen.
Zunächst starrte ihn Khattar nur sprachlos an. Dann schlug er mit der Hand auf den Tisch. Der Becher fiel um, und der König begann schallend zu lachen. Seine Stimme wurde lauter und immer lauter, bis Micail die Ohren dröhnten.
11. Kapitel
»Als mir der Erzpriester Bevor eröffnete, ich sei zur Priesterschülerin erwählt - das war ein Jahr vor dem Untergang…« Selast unterbrach sich. »Nicht zu fassen… drei Jahre ist das nun schon her! Jedenfalls sagte er mir damals voraus, ich müsse Geist und Körper in einer Weise kasteien, wie ich es bis dahin nicht gekannt hätte. Aber ich dachte, das Fasten sei freiwillig! «
Damisa nickte, ohne die drei Frauen des Seevolks aus den Augen zu lassen, die vor ihr und Selast über den schmalen, von stachligen Gräsern gesäumten Pfad gingen. »›Gewollter Hunger verursacht nur körperliches Unbehagen‹«, zitierte sie ohne Sarkasmus. Sie fing tatsächlich an, sich an das ewige Magenknurren zu gewöhnen, und störte sich kaum noch daran, dass ihr die Kleider um den einstmals kräftigen Körper schlotterten. »›Nur wer die Seele stark macht gegen die Forderungen des Leibes‹«, vollendete sie das Zitat, »›ist gegen die trügerischen Verlockungen eines Lebens in Reichtum und Bequemlichkeit gefeit.‹«
»Großartig«, murmelte Selast. »Sicher, man sollte nachempfinden können, wie die Sumpfbewohner leben,
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