Die Ajima-Verschwörung
der Siedlung vorbeilief und in den Schatten der hohen, nackten Felsen verschwand. Er war außer sich, nicht mehr er selbst: kühl, berechnend, alle Sinne übermenschlich geschärft, wurde er nur noch von einem alles beherrschenden Gedanken angetrieben.
Er mußte sich retten, um die anderen vor ihrem Schicksal zu bewahren.
Der Einfall, in Socken loszulaufen statt in den schweren Stiefeln, die er getragen hatte, als er vom Deck der
Ralph R. Bennett
gestartet war, zahlte sich jetzt aus. Glücklicherweise war der Felsboden von einigen Zentimetern feuchter Erde bedeckt, die sich infolge der Erosion im Laufe der Jahrhunderte über dem Lavafelsen gesammelt hatte.
Er lief tödlich entschlossen los, angetrieben von Wut und der Angst, er könne versagen. Sein Plan war ganz einfach, lächerlich simpel, obwohl die Chancen, Kamatori an der Nase herumzuführen, im Grunde gleich null waren. Allerdings war er vollkommen sicher, daß sein Plan von keinem der bisher gejagten Männer ausprobiert worden war. Der Überraschungseffekt war auf seiner Seite. Die übrigen hatten vermutlich nur versucht, soviel Abstand wie möglich zwischen sich und die Ferienanlage zu bringen, bevor sie kopflos nach einem Versteck gesucht hatten, um ihrem Tod zu entgehen. Not macht erfinderisch, doch alle hatten, mit grausamer Endgültigkeit, versagt. Pitt wollte eine neue Variante ins Spiel ums Entkommen bringen, die gerade verrückt genug sein mochte, um zu funktionieren.
Er besaß gegenüber denen, die vor ihm gejagt worden waren, noch einen weiteren Vorteil. Dank Penners detailliertem Modell war ihm die Geographie der Insel im großen und ganzen vertraut. Er erinnerte sich genau an die Dimensionen und Höhen, wußte exakt, in welche Richtung er sich wenden mußte, und das war nicht der höchste Punkt auf der Insel. Menschen, die voller Angst flüchten, laufen unwillkürlich nach oben; sie rennen die Treppen in einem Gebäude hoch, erklettern einen Baum, um sich zu verstecken, oder steigen auf die Felsen eines Gipfels. Alles Sackgassen, aus denen ein glückliches Entkommen nicht möglich ist. Pitt bog ab und lief zur Küste im Osten hinunter. Er rannte hin und her, als sei er unentschlossen, welchen Weg er nehmen sollte, und lief teilweise zurück, damit bei seinem Verfolger der Eindruck entstand, er habe sich verirrt und bewege sich im Kreis. Die zerklüftete, mondähnliche Landschaft und das dämmrige Licht machten es in der Tat schwer, sich zu orientieren, doch die Sterne waren noch nicht verloschen, und in Richtung Norden gab ihm der Polarstern einen Anhaltspunkt. Er blieb ein paar Minuten stehen, ruhte sich aus, um bei Kräften zu bleiben, und schätzte die Lage ab.
Jetzt erkannte er, daß Kamatori, der seine Opfer in Sandalen verfolgte, sie niemals in acht Stunden zur Strecke bringen konnte. Jemand, der sich auch nur einigermaßen im Gelände auskannte, konnte sich mit etwas Glück ein oder zwei Tage der Gefangennahme entziehen, selbst wenn er mit Hunden gehetzt wurde… es sei denn, seine Spur wurde von jemandem verfolgt, der elektronische Körpersensoren einsetzte. Pitt zweifelte nicht eine Sekunde daran, daß er von einem Roboter verfolgt wurde, der mit Sensoren ausgerüstet war. Er lief weiter. Ihm war immer noch kalt, aber er empfand keinerlei Erschöpfung.
Als die Stunde zu Ende ging, war Pitt bei den Klippen am Meer angelangt. Die verkrüppelten Bäume und das Unterholz reichten genau bis zum Rand der steilen Felsen. Er lief nun langsamer und hielt nach einer Lücke in den von der Brandung abgeschliffenen Felsen fast zwanzig Meter unter sich Ausschau.
Schließlich gelangte er an eine schmale Lichtung, die von mächtigen Felsen abgeschirmt wurde. Eine kleine Pinie, deren Wurzeln von der Erosion zum Teil freigelegt waren, klammerte sich gerade eben noch am Abhang über dem unruhigen Wasser fest.
Aufmerksam suchte er die nahe Umgebung nach Anzeichen von Videokameras oder Wärmesensoren ab, doch er entdeckte nichts.
Er war ziemlich sicher, daß er nicht beobachtet wurde, und drückte mit seinem ganzen Gewicht gegen die Pinie. Sie gab nach, und die Krone senkte sich weitere fünf Zentimeter nach vorn. Wenn er weit genug hinaufkletterte, würde der Baum durch sein zusätzliches Gewicht sicher entwurzelt werden und ihn mit sich in die Tiefe reißen.
Dann musterte er, wie es die Springer über den Klippen bei Acapulco tun, das dunkle, aufgewühlte Wasser. Er schätzte die Tiefe in einer schmalen Rinne zwischen den Felsen auf drei Meter –
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