Die Akte Golgatha
wahrnahm.
Denn als sie den oberen Treppenabsatz erreicht hatte und sich nach links wandte, wo aus einer Tür Neonlicht schien, spürte sie plötzlich einen kurzen, heftigen Schlag im Nacken, als lähmte Starkstrom ihre Glieder. Ohnmächtig sank sie in sich zusammen. Es schien ihr, als würde sie, leicht wie eine Feder, in ein helles Licht getragen und auf einer kalten Fläche abgelegt. An ihrem rechten Arm spürte sie noch einen Stich, ein leichtes, beinahe angenehmes Pieksen, dann war da nur noch eine galligweiße, undurchdringliche Wand. Sheba merkte, wie das Leben aus ihrem Körper wich. Nur von den Fingern ging noch Bewegung aus. Mit letzter Kraft und bloßem Finger malte sie ein Zeichen auf die kalte Fläche, die ihr als Unterlage diente. Ein kühler Sog riss sie hinweg, dann herrschte eisige Stille.
Gegen 17 Uhr kehrte Signora Selvini zurück. Seit de Lucas Tod, der sie schwer getroffen hatte, weil der Professore nicht nur ihr Chef, sondern auch ihr Geliebter gewesen war, war sie die einzige Bewohnerin der alten Villa. Im obersten Stockwerk unter dem Dach lebte sie zurückgezogen in zwei kleinen Mansardenzimmern mit Blick auf den Park. Vor zehn Jahren hatte de Luca sie von einem Genlabor in Bologna nach Turin geholt. Sein Angebot hatte sie bereitwillig angenommen, weil de Luca als Forscher einen Namen hatte und obendrein an ihrem Privatleben interessiert war – zunächst nur eine Vermutung, die sich jedoch als richtig erweisen sollte. Zusammen hatten sie das ›Istituto Professore Luciano de Luca‹ geführt, eine anerkannte Einrichtung auf dem Gebiet der Biotechnologie und Analytik, jedenfalls bis vor zwei Jahren, als der Professore von einer gewissen Existenzangst befallen wurde und sich mit Dingen zu beschäftigen begann, die sich am Rande der Legalität bewegten, aber viel Geld einbrachten. Seither galt das Institut am rechten Ufer des Po in gewissen Kreisen als Geheimtipp.
Signora Selvini erschrak, als sie die zwei Carabinieri sah, die den Eingang zum Institut bewachten.
»Können Sie mir vielleicht erklären, was hier los ist?«, fragte sie barsch.
Einer der beiden Polizisten versperrte ihr den Weg und entgegnete, ohne ihre Frage zu beantworten: »Wer sind Sie?«
»Signora Selvini. Ich wohne hier, wenn Sie nichts dagegen haben. Was ist passiert?«
Der Carabiniere verweigerte jede Antwort, stattdessen sagte er in rüdem Ton: »Folgen Sie mir, Signora!«
Mit Staunen nahm sie zur Kenntnis, dass der Polizist sie zum Hintereingang führte, der so gut wie nie benutzt wurde, und als sie die offen stehende Tür sah, glaubte sie zunächst an einen Einbruch, wie sie in der Gegend nicht selten waren.
Der Carabiniere brachte sie zu einem Commissario mit faltigem Gesicht und grauem Kraushaar, der mitten im Salon stand und in ein Diktiergerät sprach.
»Zuerst will ich einmal wissen, wie Sie hier hereingekommen sind?«, fragte Signora Selvini mit Nachdruck in der Stimme.
»Die Tür stand offen«, erwiderte der Commissario und steckte sein Diktiergerät in die Tasche. »Können Sie sich ausweisen? Mein Name ist Artoli.«
»Mein Name ist Selvini«, entgegnete die Signora und kramte ungehalten in ihrer Handtasche. Dabei wurde ein Bündel Geldscheine sichtbar. Nach einem flüchtigen Blick auf den Ausweis, der ihn auf einmal nicht mehr sonderlich zu interessieren schien, meinte der Commissario mit ironischem Unterton: »Tragen Sie immer so viel Geld mit sich herum, Signora?«
»Das ist doch wohl meine Sache, Commissario!«, erwiderte die Signora ungehalten.
»Aber gewiss doch, wenn es sich nicht gerade um Geld handelt, das illegal verdient und nicht versteuert wurde. Aber Sie können mir sicher die Herkunft des Geldes erklären.«
In die Enge getrieben, ging Signora Selvini zum Angriff über: »Entweder Sie sagen mir jetzt, was hier gespielt wird, oder Sie verschwinden und ich werde mich bei Ihrem Vorgesetzten beschweren!«
Artoli, die Ruhe selbst, setzte ein hinterhältiges Grinsen auf, streckte die Hand aus und sagte: »Würden Sie mir bitte Ihre Handtasche mit dem Geld überlassen?«
Wie sollte sie sich verhalten? Der Verdacht lag nahe, dass diese Sheba Yadin, der sie von Anfang an nicht getraut hatte, sie in eine Falle gelockt hatte. Sie wusste, für zwielichtige Geschäfte, wie de Luca sie betrieben hatte, war sie absolut ungeeignet. »Bin ich denn dazu verpflichtet?«, erwiderte sie auf die Frage des Commissario.
»In diesem Fall, ja, Signora.«
»In welchem Fall, Commissario?«
Der Commissario
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