Die Akte Golgatha
Gefühl, dass Gropius sie brauchte, ließ sie keinen Augenblick zögern. »Nun gut«, meinte sie und erhob sich, »dann bis morgen um zehn.«
Gegen zehn erschien Francesca Colella am nächsten Morgen in der Halle des Hotels ›Le Méridien Lingotto‹. Gropius wartete bereits. Er erkannte Francesca erst auf den zweiten Blick, denn sie hatte sich für ihre Aufgabe perfekt in Szene gesetzt: Ihr brünettes Haar verbarg sie unter einer schwarzen Langhaarperücke, ein helles Make-up verlieh ihr ein deutlich jüngeres Aussehen, und dazu trug auch der Rock ihres Kostüms bei, der eine Handbreit über dem Knie endete. Statt ihrer randlosen Brille, die ihr für gewöhnlich und ganz bewusst ihre unnahbare Ausstrahlung verlieh, trug sie Kontaktlinsen.
»Kompliment!«, meinte Gregor erstaunt. »Du siehst großartig aus. Man könnte dich wirklich für eine Israelin halten.«
Francesca zeigte auf ihre Augen: »Aber länger als fünf Stunden halte ich die Dinger nicht aus.«
Gropius nickte beschwichtigend. »Keine Bange. In zwei Stunden ist die Sache gelaufen.«
Unsicher strich sich Francesca über ihr langes glattes Kunsthaar. »Und du meinst, Signora Selvini wird meine Maskerade nicht erkennen? Immerhin bin ich ja schon einmal in dem Institut gewesen.«
Gropius zog einen grauen Umschlag mit vierzig 500-Euro-Scheinen aus der Tasche und erwiderte: »Sicher nicht. Geld macht kurzsichtig. Im Übrigen siehst du so perfekt aus, dass ich Mühe habe, dich nicht mit Sheba anzureden.«
In einer ruhigen Ecke des Foyers gingen sie noch einmal ihren Plan durch. Gropius hatte in der Nacht kaum geschlafen und sich Notizen gemacht. Seit er sich mit der Aufklärung seines Falles beschäftigte, hatte Gropius ein ängstliches, beinahe kleinkariertes Denken entwickelt, das jede Kleinigkeit einkalkulierte. Früher war ihm so etwas völlig fremd gewesen.
Der Plan sah vor, dass Francesca, um jeden Zufall und Verdacht zu vermeiden, nicht ihren eigenen Wagen benutzte, sondern mit einem Taxi zu de Lucas Institut fuhr. Um etwaige Verfolger abzuschütteln, sollte sie auf dem Rückweg nicht das Hotel ansteuern, wo Gropius zurückblieb, sondern den Bahnhof. Dort war es ein Leichtes, unterzutauchen und das Gebäude durch einen Seitenausgang wieder zu verlassen. Auf diese Weise konnte sie unbemerkt in Gropius' Hotel gelangen, wo das kostbare Objekt auf schnellstem Wege im Hoteltresor verschwinden sollte.
Pünktlich um elf Uhr traf Francesca am Institut de Lucas ein. Wie immer machte die zweistöckige, hinter Zypressen und Buschwerk versteckte Villa einen verlassenen Eindruck. Francesca hielt einen Augenblick inne, um sich zu konzentrieren. Im Zeitraffer ging sie noch einmal die Strategie durch, die Gropius ihr erklärt hatte. Dann drückte sie auf den Klingelknopf.
Signora Selvini, eine hagere Frau mit kurzen roten Haaren und dicker Schminke im Gesicht, war, was ihr Alter betraf, schwer einzuschätzen. Sie konnte vierzig sein, aber auch sechzig, jedenfalls verliehen ihr die hohen Schultern, zwischen denen ihr Hals völlig verschwand, etwas Hexenhaftes. Hinzu kam eine heisere, unsicher wirkende Stimme, wie sie unter Norditalienerinnen nicht selten ist. Im Gegensatz zu Francesca war ihr Englisch, mit dem sie sich verständigte, nicht gerade das beste, doch das kam in erster Linie der unbekannten Besucherin zugute.
Die Begrüßung fiel erwartet kühl und geschäftsmäßig aus, und Francesca hatte den Eindruck, dass die Signora, als sie sie mit zusammengekniffenen Augen musterte, nur nach dem Geld Ausschau hielt, das sie gefordert hatte. Deshalb begann Francesca: »Ich habe die Summe bei mir. Wenn Sie mir das Objekt einmal zeigen würden?«
Die Signora zog die schwarz nachgezogenen Augenbrauen, die sich auffällig von ihrer hellen Haut abhoben, nach oben und antwortete: »Sie haben doch nicht etwa erwartet, dass ich das Stück hier aufbewahre, Miss Yadin. Dürfte ich erst einmal das Geld sehen?«
Francescas Herz schlug bis zum Hals. Sie fühlte sich verunsichert, denn sie hatte fest damit gerechnet, die Übergabe würde hier im Institut stattfinden. Mit Gropius hatte sie alle Möglichkeiten erörtert, aber darauf war sie nicht gefasst. Schließlich erwiderte Francesca: »Sie misstrauen mir, Signora? Nun gut, dann mögen Sie aber auch mir ein gewisses Misstrauen zubilligen. Also, wo ist das Objekt?«
Signora Selvini murmelte auf Italienisch ein paar Schimpfwörter, die Francesca sehr wohl verstand und von denen puttana – Hure noch am freundlichsten
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