Die Akte Golgatha
erinnern, wie es gewesen war, ohne diese Angst und Unruhe zu leben, die ihn jetzt stets begleitete. Bisweilen schien es ihm, als bohre sich ein Stahlnagel in seinen Kopf und rühre darin herum, sodass Erinnerungen, Erlebnisse und Vermutungen sich zu einem zähflüssigen Brei vermengten.
Als Gregor ankam, hatte Felicia bereits die gröbsten Spuren der Hausdurchsuchung beseitigt. Nachdem er von der Erfolglosigkeit seiner Reise berichtet hatte, erzählte Felicia von einer interessanten Entdeckung. In der Brieftasche ihres Mannes, die ihr in der Klinik ausgehändigt worden war, habe sich auch ein Zettel mit einer Telefonnummer befunden. Weil kein Name dabeistand, habe sie dem Zettel zunächst keine Beachtung geschenkt, aber dann habe sie die Nummer mit der Vorwahl von Monte Carlo neugierig gemacht, sie habe einfach angerufen. Sie machte eine vielsagende Pause.
»Und?«, erkundigte sich Gropius ungeduldig. Nach zwei ziemlich frustrierenden Tagen in Berlin, die ihn eher in tiefere Ratlosigkeit gestürzt hatten als zur Klärung der Situation beizutragen, hatte Gropius nicht mehr den Nerv, sich auf die Folter spannen zu lassen. »Und, wer meldete sich?«
»Das Hausmädchen eines gewissen Dr. Fichte.«
»Fichte? Unser Fichte? Das kann nicht sein.«
»Das Hausmädchen sagte, Dr. Fichte halte sich derzeit in München auf. Ob ich Madame sprechen wolle. Ja, sagte ich, ich wolle. Da meldete sich eine Frauenstimme. Ich wiederholte meine Frage nach Dr. Fichte, und die Frau antwortete in schlechtem Deutsch – sie war wohl Französin, Dr. Fichte sei in München erreichbar, und sie gab mir eine Münchner Nummer. Dann legte ich auf. Ich wählte die Nummer, und nun raten Sie mal, wer sich meldete?«
»Keine Ahnung!«
»Frau Fichte! Jedenfalls behauptete sie, Frau Fichte zu sein. Hier ist die Nummer.«
Gropius fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht und stöhnte. Das war ein bisschen viel auf einmal, nein, das war schlichtweg zu viel!
Nach einer Weile des Nachdenkens schüttelte Gropius den Kopf und sagte: »Oberarzt Dr. Fichte? Dieser Musterknabe, dieser Spießer par excellence, diese kleinkarierte Krämerseele? Nein, das kann ich nicht glauben.«
Felicia hob die Schultern. »In jedem Spießer steckt ein kleiner Lebemann!«
»Aber doch nicht Fichte! Fichte in Monte Carlo, das ist wie ein Eskimo an der Copacabana oder wie ein Kardinal im Freudenhaus. Obwohl …«
»Obwohl?«
»Nun ja, wenn ich daran denke, dass ich Prasskov und Fichte zusammen gesehen habe und dass es offenbar Verbindungen zwischen Prasskov und der Organmafia gibt, dann gerät meine Meinung doch etwas ins Wanken. Sollte ich mich in Fichte so getäuscht haben?«
Nur mit Mühe konnte Gropius sich mit dem Gedanken anfreunden, dass sein Oberarzt vielleicht eine ganz andere Rolle spielte als jene, die er ihm bisher zugedacht hatte. Ein Doppelleben führte er auf jeden Fall. Selbst einem Künstler bereitete es Schwierigkeiten, aus der Physiognomie eines Biedermanns eine Teufelsfratze zu zaubern. Also doch? Fichte ein Handlanger der Organmafia?
Felicia verfolgte Gropius' Gedanken, als könnte sie auf seiner in Falten gelegten Stirn lesen. Nach ein paar stillen Augenblicken stellte sie die Frage: »Aber Schlesinger wurde doch ein legal zur Verfügung gestelltes Organ eingepflanzt? Sagen Sie mir die Wahrheit, Professor!«
»Ja natürlich, wo denken Sie hin!«, entgegnete Gropius irritiert. »In meiner Position hatte ich es nicht nötig, mich auf krumme Geschäfte einzulassen. Nein, ausgeschlossen. Das ist völlig absurd!«
»Ich dachte nur«, bemerkte Felicia entschuldigend. »Wie wir jetzt wissen, hatte Arno Geld genug. Er hätte sich eine Leber auf dem schwarzen Markt kaufen können, selbst wenn der Preis dafür eine Million gewesen wäre. Ich hätte ihm das nicht übel genommen bei der allgemeinen Organknappheit. Er wollte leben.«
Gropius reagierte ungehalten: »In einem deutschen Klinikum ist so etwas undenkbar. Arno Schlesinger wurde über das Zuteilungssystem ELAS ausgewählt, die Organverträglichkeit zwischen Spender und Empfänger war gegeben, und er verfügte über die erforderliche Dringlichkeitsstufe.«
Felicia fühlte sich gemaßregelt. Sie schwieg.
Da war es wieder, das Misstrauen, das sich immer wieder zwischen ihnen einschlich, sobald es Schwierigkeiten gab. Eigentlich hätten sie Verbündete sein müssen, zusammengeführt durch ein gemeinsames Problem. Doch die Unsicherheit, wie weit man dem anderen wirklich vertrauen konnte,
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