Die Akte Golgatha
erwecken, der Mann habe ihm einen Schrecken eingejagt.
»Ach, nichts Besonderes«, erwiderte der Unbekannte, »ich heiße übrigens Rodriguez.«
»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich sage: Angenehm!«, knurrte Gropius verärgert und beschleunigte seine Schritte, als wolle er Rodriguez abschütteln.
Doch der kleine, schwarz gekleidete Mann hielt munter mit und tönte gegen den Wind, der vom Brandenburger Tor her wehte: »Ich will Sie warnen, Professor Gropius. Sie sollten Ihre Nachforschungen in Sachen Schlesinger einstellen. Sein Tod hat mit Ihnen nichts zu tun, und Ihre Chance, die Hintergründe aufzuklären, ist gleich null.«
Zunächst hatte Gropius nichts bemerkt, aber nun war er sich plötzlich ganz sicher: Die dunkle Stimme und die langsame Art zu sprechen – genau so hatte die unheimliche Stimme am Telefon geklungen, die ihn unmittelbar nach Schlesingers Tod gewarnt hatte. Am liebsten wäre er dem kleinen Männchen an die Gurgel gefahren und hätte aus ihm herausgepresst, für wen er arbeite und warum Schlesinger sterben musste, aber eine scheinbar nebensächliche Beobachtung hielt Gropius zurück: Bisher hatte er an einen Zufall geglaubt, aber nun verwarf er den Gedanken. Seit geraumer Zeit, seit dieser Rodriguez neben ihm hertrottete, fuhr auf der rechten Fahrbahn der Allee eine dunkle Limousine mit abgedunkelten Scheiben in Schrittgeschwindigkeit neben ihnen her. Gropius tat so, als ob er den Wagen nicht bemerkte, und setzte zielstrebig seinen Weg fort; doch er hatte ein mulmiges Gefühl.
»Die Geschichte wird nie aufgeklärt werden«, bemerkte der Fremde, und dabei blickte er ziemlich gleichgültig geradeaus.
Gropius konnte seine Wut kaum verbergen. »Wollen Sie damit sagen, dass ich den Makel, der an mir haftet, nie mehr loswerde? Hören Sie, wer immer Sie auch sein mögen, weder Sie noch irgendeine Organisation wird mich daran hindern, meine Unschuld zu beweisen!«
Der Mann sah Gropius an und lächelte mitleidig: »Wenn ich nur wüsste, wie ich Ihnen das ausreden könnte. Sie sind doch sonst so ein kluger Kopf, und jetzt benehmen Sie sich wie ein Don Quichotte.«
»Der kämpfte gegen Windmühlen, soviel ich weiß!«
»Eben. Und Sie wissen, wie der Kampf ausging!«
Inzwischen waren sie vor dem Hotel ›Adlon‹ angelangt, wo gerade ein alternder Popstar von einer Gruppe kreischender junger Mädchen empfangen wurde. Gropius wandte sich um; aber da war Rodriguez schon verschwunden. Er nahm gerade noch wahr, wie die dunkle Limousine beschleunigte und davonfuhr.
Auf dem Weg zu seinem Hotelzimmer im fünften Stock wurde Gropius von einer bösen Vorahnung befallen. Der Lift brauchte unendlich lange, bis er sein Ziel erreichte. Schnellen Schrittes ging Gropius den Gang zu seinem Zimmer entlang, presste den Schlüssel in das Türschloss, stieß die Tür auf und schaltete das Licht ein. Er zögerte, das Zimmer zu betreten. Seit Tagen lebte er mit Einbildungen, Einbildungen, die sich mehr als einmal bewahrheitet hatten. Jetzt litt Gropius unter der Einbildung, jemand könnte in seiner Abwesenheit sein Zimmer betreten haben. Natürlich waren seine Nerven überreizt, natürlich hatte er Schwierigkeiten, mit den Ungereimtheiten, die seit kurzem sein Leben bestimmten, fertig zu werden. Nimm dich zusammen!, sagte er im Stillen zu sich und betrat das Hotelzimmer.
Die Beleuchtung verbreitete schattenlose Behaglichkeit, nichts Angsteinflößendes. Gropius hielt inne und lauschte. Am Fenster rauschte der Herbstwind, aus dem Badezimmer drang das Summen der Beleuchtung. Mit einem Ruck stieß er die Tür zum Badezimmer auf. Ein Handtuch war vom Halter geglitten. Eine verräterische Spur? Gropius öffnete den Wandschrank. Er fragte sich, ob er das Hemd nicht umgekehrt aufgehängt hatte, wusste es aber nicht sicher zu sagen. Auch der Pilotenkoffer, in dem er seine Reiseutensilien verstaute, zeigte keine Spuren.
Gropius atmete tief ein und presste die Luft lautstark aus den Lungen. Er war den Tränen nahe, nicht aus Trauer, aus Verzweiflung. In Berlin, dieser Drei-Millionen-Stadt, hatte er geglaubt sicher zu sein, fernab des Geschehens, das ihm so zusetzte. Jetzt fühlte er sich mehr beobachtet als je zuvor. Er griff zum Telefon: »Bitte machen Sie mir die Rechnung«, sagte er leise. »Ich reise ab, sofort.«
K APITEL 5
V om Flughafen in München fuhr Gropius auf direktem Weg zu Felicia an den Tegernsee. Seit siebenundzwanzig Tagen lebte er nun in diesem Zustand der Anspannung. Er konnte sich gar nicht mehr
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