Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Akte Golgatha

Die Akte Golgatha

Titel: Die Akte Golgatha Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Vandenberg
Vom Netzwerk:
Schlesinger. Aber warum kam der Professore nicht selbst, sondern schickte stattdessen eine weltgewandte, attraktive Frau?
    Je mehr er über den gestrigen Tag nachdachte, desto mehr kam ihm zu Bewusstsein, dass er sich nicht sehr geschickt verhalten hatte. Wo war sein Selbstbewusstsein, seine Ungezwungenheit im Umgang mit Menschen? Die kühle Signora hatte ihn ganz schön eingeschüchtert. Jetzt ärgerte er sich, dass er so verunsichert, verwirrt und zögerlich reagiert hatte.
    Eine halbe Stunde mochte vergangen sein, eine Zeit unruhigen Wartens, in der Gropius jede Frau musterte, die das Lokal betrat, und hochschreckte, wenn das Telefon hinter dem Tresen an der linken Seite klingelte. Der pikante Bulettenduft, der sich seit geraumer Zeit verbreitete, machte ihn hungrig, und er bestellte zwei Fleischklopse mit Kartoffelsalat. Das Mädchen, das die Bestellung aufnahm, hatte lange blonde Haare bis zum Po und eine weiße Schürze umgebunden, die bis zu den Knöcheln reichte. Gropius blickte der Blondine hinterher und überlegte, ob sie wohl hübsche Beine hätte. Nervös ließ er den Zettel durch die Finger gleiten, auf dem er den Zahlencode notiert hatte, der die geheimnisvolle Kassette öffnen würde. Da kehrte das blonde Mädchen an seinen Tisch zurück und fragte: »Sind Sie Herr Gropius?«
    Irritiert blickte Gropius auf: »Ja, warum?«
    Die Blondine mit der langen Schürze legte ein Papier vor Gropius auf den Tisch: »Ein Telefax für Sie!«
    »Für mich?« Verdutzt nahm Gropius das Schreiben in die Hand und las:
    »Signore! Ich glaube nicht, dass Sie der sind, der zu sein Sie vorgeben. Sollte Sig. Schlesinger an dem Deal weiter interessiert sein, möge er sich mit Professore de Luca direkt in Verbindung setzen. Francesca Colella.«
    Auf der Straße Unter den Linden pfiff ein kalter Wind und wirbelte das Ahornlaub auf, das der Herbst in der Mitte der großen Allee übrig gelassen hatte. Gropius zog es vor, den Weg zum ›Adlon‹ zu Fuß zurückzulegen. Der Wind kam ihm gerade recht, um sein Gehirn gehörig durchzupusten; wieder einmal war er am Ende seiner Überlegungen angelangt. Allmählich wurde ihm klar, dass er es hier mit einer Macht zu tun hatte, der er nur schwer beikommen konnte. Dabei erfasste ihn ein plötzliches Unbehagen, die Angst, er könne sich mit seinem Alleingang noch tiefer in düstere Machenschaften verstricken.
    Seine Hände in den Manteltaschen vergraben, schlenderte Gropius auf dem sandigen Mittelstreifen entlang, als der Wind ihm eine Wolke Staub ins Gesicht wirbelte. Mit dem Handrücken versuchte er, der Tränen Herr zu werden, die der Luftsog verursacht hatte. Die Cafés und vornehmen Geschäfte auf beiden Seiten der Prachtstraße zerrannen wie Spiegelbilder in einer Wasserpfütze. Deshalb nahm er den dunkel gekleideten Mann an seiner Seite, mit dem er schon seit einiger Zeit die Richtung teilte, nur schemenhaft wahr. Auch dass dieser ständig auf gleicher Höhe mit ihm blieb, störte ihn nicht – bis der Mann plötzlich zu sprechen begann: »Professor Gropius? Ziemlich frisch heute, finden Sie nicht?«
    Obwohl durch die unerwartete Anrede verunsichert, setzte Gropius seinen Weg fort. Er wusste nicht, wie ihm geschah, auch nicht, wie er reagieren sollte. In seinem Kopf jagte eine Frage die andere: Woher kannte der Fremde seinen Namen? Und wenn er ihn kannte, warum wählte er diesen ungewöhnlichen Weg, um mit ihm in Verbindung zu treten? Woher wusste der Mann überhaupt, dass er, Gregor Gropius, in diesem Augenblick über die Straße Unter den Linden schlenderte? Wurde er Tag und Nacht beobachtet? Von wem und mit welchem Hintergedanken? War nicht längst das eingetreten, was er gerade noch befürchtet hatte?
    Ohne stehen zu bleiben, sah Gropius den Fremden von der Seite an: ein kleiner, untersetzter Mann mit dünnem, aber langem dunklem Haar, das er sorgsam von der einen auf die andere Seite gekämmt hatte. Sein Gesicht war auffallend blass und bildete zu seiner schwarzen Kleidung einen herben Gegensatz. Für einen Mann seiner Größe war der zweireihige Mantel, den er trug, viel zu lang, was seinem Gang eine gewisse, beinahe komische Feierlichkeit verlieh. Er wirkte nicht gerade unsympathisch, aber fraglos war er nicht der Mann, den Gropius unter normalen Umständen auf der Straße angesprochen und nach dem Weg gefragt hätte.
    »Was wollen Sie?«, erkundigte er sich schließlich, nachdem er die äußere Erscheinung des Unbekannten registriert hatte, und um nicht den Eindruck zu

Weitere Kostenlose Bücher