Die Akte Golgatha
Méridien Lingotto‹, das größte der Stadt, vermittelte von außen nicht unbedingt den Eindruck einer Luxusherberge, was daran liegen mochte, dass es aus dem Gebäudekomplex der alten FIAT-Automobilfabrik errichtet wurde. Das oberste Stockwerk des rechteckigen Karrees diente früher als Teststrecke für Automobile, heute können Hotelgäste dort Sport treiben.
Gropius buchte für zwei Tage ein sonniges, komfortabel eingerichtetes Zimmer mit Blick in den Innenhof. In dieser Zeit, glaubte er, würde er de Luca aufspüren und in Erfahrung bringen, was in der zwanzigtausend Euro teuren Kassette verborgen war. Dass er von de Luca, dessen Vornamen er nicht einmal kannte, keine Telefonnummer oder Adresse hatte, machte die Sache nicht gerade einfacher, und auch seine Bitte an den Portier, er möge ihm die Nummer von Professore de Luca aus dem Telefonbuch heraussuchen, verlief ohne Ergebnis.
Aber da gab es noch Francesca Colella und die Sicherheitsfirma VIGILANZA. Unter dem Namen Colella fand Gropius drei Einträge im Telefonbuch. Eine Leitung blieb tot, als er die Nummer wählte, bei der zweiten hob niemand ab und die dritte erwies sich als Fehlgriff, weil der Tankstellenbesitzer, dem die Nummer gehörte, bei der Madonna und allen italienischen Heiligen beteuerte, weder eine Ehefrau noch eine Tochter namens Francesca zu haben, nicht einmal eine Schwiegermutter dieses Namens, die heiße seit vierundsechzig Jahren Clara. Blieb noch VIGILANZA.
Gropius hatte Francesca Colellas Bild vor Augen, als er die sechsstellige Nummer von VIGILANZA wählte: Das Auftreten der kühlen Brünetten in Berlin hatte ihn auf seltsame Weise fasziniert. Ihr sicherer Blick hinter den randlosen Brillengläsern erinnerte ihn an seine Biologielehrerin, in die er sich – er war damals dreizehn oder vierzehn – unsterblich verliebt hatte, als sie am Beispiel der Wilden Tulpe, von ihr Tulipa silvestris genannt, die Fortpflanzung mittels Bestäubung erklärte. Sein Interesse galt damals in der Hauptsache den Strapsbändern seiner Lehrerin, die unter ihrem engen, schwarzen Rock deutlich hervortraten. Unglücklicherweise fiel Frau Lankwitz, so hieß die Trägerin der sündhaften Haltevorrichtungen, seine unartige Verstörtheit auf. Zwar sagte sie kein Wort, aber der Blick, den sie ihm durch ihre funkelnden Brillengläser zuwarf und der ihm zu verstehen gab, dass sie seine Ungehörigkeit sehr wohl bemerkt hatte, jagte ihm einen wohligen Schauer durch den Leib. Die Folge des von seinen Mitschülern unbemerkten Ereignisses: Frau Lankwitz trug nie mehr Strapse – jedenfalls nicht in der Schule. Aber seitdem hatte er etwas für Frauen übrig, die so unnahbar auftraten wie Francesca Colella.
»Pronto!«, meldete sich Francesca mit strenger Stimme am Telefon.
Als Gropius seinen Namen nannte, entstand erst einmal eine lange Pause. »Ich glaube, Sie sind mir noch eine Erklärung schuldig«, meinte er nach einer Weile. »Wir waren verabredet, aber Sie sind nicht erschienen.«
»Ich habe Ihnen ein Fax geschickt«, erwiderte Francesca knapp. »Sie haben Ihre Rolle zu schlecht gespielt. Ich habe von Anfang an nicht geglaubt, dass Sie Schlesingers cognato sind, und dann wussten Sie nicht einmal den Zahlencode der Kassette. Dabei war dies die vereinbarte Kennung. Nein, Herr Gropius oder wie immer Sie heißen mögen, unser Auftraggeber meinte, ich habe richtig gehandelt. Was wollen Sie überhaupt von mir?«
»De Lucas Adresse!«
Signora Colella lachte auf: »Wenn Sie von Signor Schlesinger beauftragt sind, müssen Sie doch de Lucas Adresse kennen! Also, was wollen Sie?«
Nein, dachte Gropius, dieser Frau war mit einer einfachen Lügengeschichte kaum beizukommen. Also versuchte er eine andere Strategie. »Signora«, begann er einschmeichelnd, »ich würde Sie gerne heute Abend zum Essen einladen. Bitte schlagen Sie die Einladung nicht ab.«
Da brach Francesca erneut in heftiges Gelächter aus. Es klang, als benützte sie ihr Lachen als Schutzschild, jedenfalls tönte es alles andere als glaubhaft. »Nein, danke!«, erwiderte sie knapp.
»Warum nicht?«, fragte Gropius.
»Jeder persönliche Kontakt zu einem unserer Klienten ist uns aus Sicherheitsgründen verboten. VIGILANZA ist ein renommiertes Unternehmen, und ich kann es mir nicht leisten, meinen Job wegen eines warmen Abendessens aufs Spiel zu setzen. Und jetzt entschuldigen Sie mich.« Dann legte sie auf.
Verdammt! Gregor Gropius presste den Hörer in seiner Faust, als wollte er ihn zerquetschen.
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