Die Akte Kachelmann
den MDR-Direktor und den anderen verwirrenden Botschaften werden die Ermittler erst erfahren, nachdem sie den Verfasser verhaftet haben. In den ersten Tagen und Wochen nach der angeblichen Tat sind ihnen beim Nachforschen die Hände gebunden. An Lena G. in Hamburg herantreten wollen sie nicht, noch nicht. Die Staatsanwaltschaft fürchtet, die junge Frau könnte ihren Partner im Olympiaeinsatz warnen.
Soweit Nachforschungen möglich sind, laufen sie unter höchster Geheimhaltung. Kaum ein halbes Dutzend Beamte bei Polizei und Staatsanwaltschaft ist eingeweiht. Nicht einmal alle Kollegen der Spurenauswertung erfahren, wer der Beschuldigte ist. Die Rede ist meist nur von «JK 1958». Die Experten vom Landeskriminalamt Baden-Württemberg finden männliche DNA am Bettbezug und am Geschirr aus der Schwetzinger Dachwohnung. Am Messer und am Tampon stellen sie nur weibliche DNA fest. Doch sie kündigen an, die Suche nach Erbgut zu wiederholen.
Am 22. Februar 2010 freut sich Jörg Kachelmann über den Sieg seines Landsmanns Mike Schmid in der jungen Disziplin Skicross. Imfernen Mannheim beantragt die Staatsanwaltschaft derweil Haftbefehl gegen ihn. Die Ermittler werden sehen, wie der Nichtsahnende spät an jenem Montag twittert: «Der Abendhimmel von Whistler zeigt die ersten Schleierwolken im Westen, die am Dienstag immer dichter werden im Laufe des Tages.» Keine zwei Wochen sind vergangen, seit Jörg Kachelmann unbehelligt ins Flugzeug gestiegen ist. Seither hat sich etwas Wesentliches getan in der Strafsache unter Aktenzeichen 404 Js 3608/10: Rechtsmediziner Rainer Mattern hat seinen Bericht abgeliefert über seine Untersuchungen am mutmaßlichen Opfer. Das Gutachten widerlegt den Tatverdacht nicht. Es erhärtet ihn in den Augen der Ermittler.
Auf fünf Seiten analysiert Professor Mattern jede einzelne Verletzung. Die großen Hämatome innen an den Oberschenkeln von Sonja A. führt er zurück auf «stumpfe und oberflächlich-scharfe Gewalteinwirkungen». Wegen ihrer Verfärbung und dem Stadium der Wundheilung könnten sie «zeitlich dem Tatgeschehen zugeordnet werden», wird Mattern fast ein Jahr später vor Gericht erläutern. Die «kräftigen Blutunterlaufungen» hätten ihn an «gewaltsames Auseinanderdrücken der Beine, etwa mit den Knien des Täters denken» lassen. Die unregelmäßigen Konturen sprächen für mehrfache Einwirkungen.
Die Rötungen oberhalb des Kehlkopfs ließen, so wird Mattern wiederholen, sich erklären durch «mehrfaches Andrücken eines Messers gegen den Hals». Er vermutet, dass die Verletzung vielleicht durch den Rücken der Klinge verursacht wurde. Konkrete Hinweise auf das sichergestellte Tomatenmesser hat er keine gefunden.
Am linken Oberschenkel, am Bauch und am linken Unterarm von Sonja A. hat der Rechtsmediziner Kratzer entdeckt. Sie könnten – so hält er fest – «durch ein spitzes Werkzeug entstanden sein, beispielsweise durch eine Messerspitze».
Mattern vergleicht das Verletzungsbild mit den Angaben von Sonja A. in den ersten Vernehmungen. Ihm fällt auf, dass das angebliche Opfer nichts berichtet von der «Phase, in der die stärkste mechanische Gewalt gegen ihren Körper gewirkt hat – gegen die Innenseite der Oberschenkel».
Stutzig macht ihn noch etwas: Ähnliche Hämatome hat er zwar schon an Oberschenkeln von Vergewaltigungsopfern gesehen. Meist jedoch waren sie weniger intensiv. Und fast immer wiesen Misshandelte mit solchen Verletzungen gleichzeitig blaue Flecken an den Armen auf, wo die Täter sie festgehalten hatten, oder andere Abwehrverletzungen. Bei Sonja A. jedoch ist nichts dergleichen zu sehen. Wie jeder Rechtsmediziner weiß auch Mattern: Das muss nichts heißen.
Doch könnte sich Sonja A. auch selbst verletzt haben? Grundsätzlich ja, hält Mattern fest, an allen Stellen. Häufig verraten sich falsche Opfer, indem sie sich fast unmöglich viele Schnitte oder Schürfungen beibringen. «Wenn solche Kratzer mehrfach, in Scharen bei oberflächiger Ausprägung auftreten, kommt eine Selbstbeibringung eher in Betracht», doziert Mattern. Einfache oder vielleicht doppelte Schnitte wie bei Sonja A. sprächen nicht gegen Fremdtäterschaft.
Die Verletzungen, so lautet das Fazit von Mattern, ließen sich mit dem Tatgeschehen, wie von der «Geschädigten» geschildert, vereinbaren. Offensichtliche Widersprüche könnten nicht festgestellt werden, schreibt Mattern. Das werden mehrere Fachkollegen in einem halben Dutzend Expertisen anders sehen. Doch am 25. Februar
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