Die Akte Kachelmann
das nicht abgenommen, sie insistierte. Schließlich gab er zu, mit dieser Lena G. etwas gehabt zu haben. Aber schon seit Monaten sei Schluss. Doch Sonja A. weiß, das stimmt nicht.
Dann habe er ruhiger gewirkt. Er sprach, so Sonja A. weiter, von seinen Problemen. Er spiele Frauen etwas vor. Bei ihm lege sich manchmal ein Schalter um. Gerichtspsychiater Hartmut Pleines, der Kachelmanns Inneres zu beurteilen hat, wird sagen, es handle sich beim Angeklagten «um einen sozial hoch kompetenten, zielstrebigen und erfolgreichen Menschen, der weit entfernt ist von den Vorstellungen eines psychisch gestörten Menschen». Merkmale psychischer Erkrankungen lägen keine vor. Kachelmann sei aber «in eine Vielzahl von Rollen» geschlüpft, «die einen fast schwindlig werden lassen»: «Er war der erfolgreiche Geschäftsmann, der Sexualpartner, der liebevolle Partner, der Vater, der sich um seine Kinder sorgte.»
Die Ermittler, die Sonja A. zuhören, ahnen zu diesem Zeitpunkt nicht, dass Jörg Kachelmann schon öfters und gegenüber verschiedensten Personen absurd Anmutendes erzählt hat. Mit erfundenen Krankheiten hat er sich Freiräume geschaffen. Mit allerlei Ausreden hat er Sonja A., andere Frauen, aber auch Geschäftspartner hingehalten. Viele glaubten, den vermeintlichen Erfinder der Blumenkohlwolke und vieler Geschichten über sein Schicksal gut zu kennen. Viele fielen auf ihn herein. «Beziehungszeuginnen» werden den Behörden drastisch klingende Dinge berichten, die sich irgendwann als weit weniger drastisch herausstellen.
Im Strafverfahren wird dem Beschuldigten all dies zum Verhängnis werden. Das ganze Konstrukt wird gravierende Konsequenzen haben – nicht nur, weil es die Frauen gegen den Verdächtigten aufbringen wird. Die Ermittler forschen in diesem Bereich akribischnach und was sie herausfinden, erhöht ihren Tatverdacht. Vielleicht geraten sie aber auf die falsche Fährte, weil sie den Verfasser der wirren Botschaften nicht durchschauen. Doch anfangs passt alles so gut ins Bild. Kurz nach der Landung in Vancouver verfasst Jörg Kachelmann eine Nachricht an Lena G. Er, so steht da, diskutiere gerade, ob er zurückfliegen dürfe und wer ihn ersetzen könnte.
Am 12. Februar werden die XXI. Olympischen Winterspiele eröffnet. Jörg Kachelmann verfolgt, wie er über den Kurzbotschaften-Dienst Twitter schreibt, «eine beeindruckende Eröffnungsfeier über ein großes Land» und tritt seinen TV-Dienst an. Der Wetterexperte ist gefragt in den ersten Tagen, da wenig Schnee auf dem Cypress Mountain liegt und wegen frühlingshaften Regens und Nebels Skirennen verschoben werden. Gleich zum Auftakt der Wettkämpfe zettelt er einen kleinen öffentlich-rechtlichen Disput mit der Konkurrenz an: Das ZDF wirbt mit einem Biber für sein Olympiaprogramm, der rund um Vancouver olympische Ringe in den Nadelwald frisst. Kachelmann weist darauf hin, dass kanadische Biber keine Nadelbäume mögen. Seinem Ruf als «Klugschweizer», das Wort prägte der Bürger Schaffhausens selbst, wird er damit einmal mehr gerecht. Allerdings muss er sich von Zoologen belehren lassen, dass Biber zwar Laubbäume bevorzugen, aber in der Not auch mal einen Nadelbaum fällen.
Doch was hat es mit dem Rückkehrwunsch des Wetterexperten vor Auftakt der Spiele auf sich? Ein halbes Dutzend Fernsehmitarbeiter wird die Schwetzinger Polizei später abklappern. Kein Einziger weiß etwas davon, dass Kachelmann vorzeitig zurück nach Europa gewollt hat, nicht einmal die Entscheidungsträger der ARD, zu denen der Dienstweg ihn geführt hätte.
Die befragten Kollegen werden der Polizei Harmloses aus dem provisorischen Studio im Skiort Whistler berichten: Kachelmann erleben sie, wie er die meiste Zeit in seinem Kämmerlein vor dem Computer sitzt. An manchen Wettkampftagen ärgert er sich, weil er nur wenige Minuten Bildschirmpräsenz bekommt. Ein Fernsehjournalist sagt aus, er hätte Kachelmann «am ehesten in die SchubladeFriedensaktivist gesteckt», weil der mit den langen Haaren oft im Schneidersitz vor seinem Laptop saß.
Auch Sonja A. sitzt vor ihrem Laptop. Sie schreibt an einer Art Tagebuch. Ihr Gemütszustand schwanke, hält sie fest, wie ein Schiff auf rauer See. Plötzlich sei es wieder da, dieses große, schwarze Loch. Warum, fragt sie sich, konnte ich mich elf Jahre lang so täuschen. Warum? War ich blind vor Liebe?
Die Chronologie des Leidens umfasst zwölf Seiten, abgespeichert unter «warum.doc». Das erste Dokument mit diesem Namen hat die
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